Mein, Dein, Tod
„Wer vorgibt, den Tod nicht zu fürchten, lügt!“, sagt Rousseau. Sie hätten keine Angst, sagen mir Freunde, die ich befrage. Lügen sie mich an? „ … Alle sprechen sie, als hätten sie noch Zeit, selbst wenn sie wissen, sie könnten bereits jetzt und jetzt keine mehr haben … “ (Hendrik Jackson, Panikraum)
„Warum sollte man vor etwas Angst haben, was unumgänglich ist?“ oder „vorher war man schließlich ein Nichts, und danach ist man das eben auch: ein Nichts.“ Gängige Antworten, wenn ich weiter insistiere. Nihilismus. Nichts als „kalte Masse“ im Universum. Alles „entzaubert“; es gibt fast nichts mehr, was nicht erklärt werden kann. Bis auf den Tod, den eigenen Tod, den Tod des vernünftigen und wissenden Menschen, und das, was danach kommt (oder nicht kommt).
Ich bin rückständig. Ich glaube zwar an die Wissenschaft, habe aber trotzdem Angst vor dem Tod. Vielleicht glaube ich nicht stark genug, vielleicht zweifle ich daran. Kommt daher die Angst? Jedenfalls schäme mich wenn ich meine Angst entblöße. Ich. Die Angst vor dem Tod, die Angst vor meiner Sterblichkeit ist mir unangenehm und auch peinlich. Warum dieser Scham? Hat mein Glaube, die Religion der Vernunft, die alles erklärende Allmacht, hier ihr Leck und ist mir das bewusst? Empfinde ich Scham, weil ich das Wissen darüber verdecken möchte, um so meine Religion zu verteidigen, wie der oft belächelte Fanatiker die seine?
Der Tod aber ist da, Er kommt früher oder später. Er ist also kein Nichts; wir werden sterben. Ich kann den Tod nicht ganz ausblenden. Die Angst ist seit dem ersten Bewusstwerden der Sterblichkeit kein bisschen weniger geworden. Nicht milder, nicht süßlicher, nicht verständnisvoller. Sie ist da, scharf, brennend, aussichtslos, verzweifelnd: „Was wuchtet so röhrig hinten raus, was rast du Maulwurf wieder durch mich durch? Aber wenn ich mich in diesem Moment aus der Konditionierung löse, wem kann ich dann trauen? Dem Körper, dem Hirn, meinem Einfall, meiner Furcht nicht.“ (Hendrik Jackson, Panikraum) Es lügen eben nicht alle.
Über den eigenen Tod zu schreiben ist unmöglich. Ich werde meinen irgendwann erleben, doch nichts von diesem Erlebnis schreiben können. Und wie kann ich im Leben über ihn reflektieren, ihm versuchen näher zu kommen, obwohl er in mir ist, mit mir wächst? Ich sollte an den Anfang gehen, an den Zeitpunkt, als er mir zum ersten Mal bewusst wurde. Und da anfangen, irgendwo in meiner Kindheit, aber wann genau war das? Wann war dieser Moment als meine Unsterblichkeit zerstört wurde, sich aufgelöst hatte in diese scharf-schneidende Erkenntnis der Endlichkeit?
In meiner Kindheit war ich unsterblich. Die Kindheit hatte die Unsterblichkeit, wo ich wie ein Gott im Olymp lebte. Der Tod war wie bei Tom und Jerry, die, wenn sie auch von einer Walze überrollt wurden, wieder aufstanden und weiterliefen. Er war ein Spiel, der nie ernst machte, der nie Angst machte, denn er galt nicht für mich.
Es war nicht so, dass in meiner Umgebung nie Menschen starben; ganz im Gegenteil. In dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, starben dauernd Leute. An einen Sterbenden kann ich mich sogar sehr gut erinnern. Totenwache am Bett. Groß und Klein waren Verwandte da und wechselten sich beim ihm ab. Der alte Mann atmete schwer. Sein Gesicht war gelb mit eingefallenen Wangen. Ab und an bekam er von einer Frau löffelweise Wasser in seinen Mund gegossen. Sein Sohn, ein Geistlicher mit langem Bart, hatte errötete Augen. Er hielt mich umarmt, fest an sich gedrückt und pendelte mit dem Oberkörper hin und her. Ich verstand diese Geste nicht zu deuten und war froh, als er mich losließ und ich wieder mit den anderen Kindern spielen konnte. Doch heute weiß ich, dass er damals in seine eigene Sterblichkeit geblickt hatte, und mich, das Kind, an sich drückte, um etwas von meiner Unsterblichkeit zu bekommen.
Und dann, eines Nachts, ich weiß nicht mehr wann, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich ein Mensch war wie die anderen auch, dass ich nicht in der Zeichentrickwelt lebte, sondern in einer, worin alle Lebewesen einmal sterben werden. Von diesem Augenblick an habe ich die Todesangst im Nacken; mit kaltem Schweiß, mit unruhigem Atem, mit Herzrasen. Ausweg unmöglich. Und meistens kommt sie nachts, in dem Moment, kurz vor dem Einschlafen, wenn die Aufmerksamkeit sich zurückzieht, der Verstand sich herunterfährt wie bei einem Rechner. In diesem Übergang vom Wach- zum Schlafzustand blitzt der Gedanke auf, dass irgendwann der Tod – dieser große Bruder vom Schlaf – unausweichlich kommen wird. Er wird sich dann für immer auf mein Leben legen.
Nur wie wird er sein, der große Tod? „Plötzlich realisierte ich, dass ich gefangen war. Eine kalte, klare Intelligenz sagte mir ohne Worte, so etwas wie ‚Jetzt ist es zu spät, Du bist für immer gefangen, in einem ewigen Kreislauf, ein Kurzschluss im Gehirn‘.“ So beschrieb mir Raoul, ein Unbekannter, der sich so nennt, seine Todeserfahrung unter Drogen. Er schrieb weiter: „Ich war nicht mehr ich, ich wusste nicht wer ich bin und dass ich lebte, ich WAR, sonst nichts. Gefangen für alle Zeiten in einem kalten Raum. Wie eine Ratte im Versuchslabor. Mir war bewusst, dass das der TOD ist, dass wir alle, wenn wir sterben, dorthin kommen und nichts dagegen tun können, weil es die letztendliche Wahrheit hinter allen Dingen ist. No Escape. Ich geriet in Panik, ich war verzweifelt, wie noch nie in meinem Leben, ich WAR Verzweiflung, ich WAR Panik. Der psychedelische Raum war weiß, und irgendeine Bewegung. Für mich war die Ewigkeit eine Endlosschleife.“ Die Hölle bei Dante ist nicht das Quälen, sondern deren ständige Wiederholung, dachte ich, als ich die lange Mail von Raoul las.
Auf der anderen Seite beschreibt Borges die Unsterblichkeit ähnlich: „Der Tod (oder die Anspielung auf ihn) macht die Menschen wertvoll und anrührend. Das Bewegende an ihnen ist ihr gespenstischer Zustand; jede Handlung, die sie ausführen, kann die letzte sein; es gibt kein Gesicht, das nicht bald zerfließen wird wie das Gesicht in einem Traum. Alles hat bei den Sterblichen den Wert des Unwiederbringlichen und des Gefährdeten. Bei den Unsterblichen dagegen ist jede Handlung (und jeder Gedanke) das Echo von anderen, die ihr in der Vergangenheit ohne ersichtlichen Beginn vorangingen, oder zuverlässige Verheißungen anderer, die sie in der Zukunft bis zum Taumel wiederholen werden. Es gibt kein Ding, das nicht gleichsam verloren wäre zwischen unermüdlichen Spiegeln. Nichts kann nur ein einziges Mal geschehen, nichts ist auf kostbare Weise gebrechlich.“ (der Unsterbliche)
Wenn also der Tod eine ständige Wiederholung ist, wie mir Raoul beschrieb und Unsterblichkeit ebenso, wie Borges schilderte, dann sind sie, der Tod und die Unsterblichkeit, in diesem einen Punkt absolut gleich. “Hat denn die Unsterblichkeit nicht etwas vom Tod, und der Tod nicht etwas von der Unsterblichkeit?“ schrieb Stefano D’Arrigo ebenfalls in Horcynus Orca.
Raoul hat diese Attacken, er ist nicht drüber hinweg, wie er mir schrieb. Und ich habe meine, wenn auch ohne Psychose wie bei ihm. Doch uns beiden hilft die Tatsache, dass wir eben nicht wissen, wann dieser Moment kommen wird. Auch wenn ich täglich an den Tod denke, platziere ich ihn von meinem jetzigen Stand weg in einer Zeit weit vor mir in die Zukunft. Wie wäre mein Leben allerdings, wenn ich genau wüsste, dass der Tod sehr nah ist, also unmittelbar nah in der Zukunft?
Als Wolfgang Herrndorf noch lebte und seinen Blog schrieb, hatte ich Hemmungen, darin zu lesen. Eine Befangenheit überfiel mich, eine die mich abhielt, Texte von einem „bewusst Sterbenden“ zu lesen, obwohl mich das brennend interessierte. Nach seinem Ableben legte sich dieser Zustand und ich las seinen Blog „Arbeit und Struktur“.
„Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber panische Angst vor der Steuererklärung. Auch vor anderen Kleinigkeiten, die gemacht werden müssen. Die eigentlich nicht gemacht werden müssen, aber die nicht zu machen einen solchen Schritt aus der Richtung des Lebens heraus bedeutet, dass man gleich aufhören könnte.“ Es ist also die Routine, an der auch ein „Sterbender“ sich im Leben orientiert.
Aber, wenn das Leben ausschließlich aus diesen Routinen bestünde, hätte es noch einen Sinn? Hätten wir dann einen Geist? Denn „Tiefe Unsicherheiten oder feste Zuversicht sind nicht einfach Emotionen wie Zorn oder Freude, sondern Ausdruck von Geist.“ (Warum es die Welt nicht gibt, Markus Gabriel). Der Geist macht sich also kenntlich zwischen diesen extremen Polen. Und für einen, der sein Ableben nicht von sich wegschieben kann wie wir „Gesunden“, sind die Ausschläge zwischen Glückseligkeit und Verzweiflung sehr nah beieinander, der Geist somit scharf und allzeit wach. „ … Dann ist es nur eine Armlänge bis zum Wahnsinn und noch zwei Fingerbreit zum Nichts. Ich muss nur die Hand ausstrecken. Es wundert mich, dass es den anderen nicht so geht.“ (Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur)
Doch, behaupte ich zu sagen, es geht vielen so. „Ohne Bleibe, ohne Leib, ohne ohne, hinter jedem Wort presst ein Geist aus der Flasche.“ (Hendrik Jackson, Panikraum). Und Herrndorf weiter:
„Am Ende, wenn die Welt vergeht
Und kein Gedicht weiß, wer wir waren,
Wenn kein Atom mehr von uns steht
Seit zwölf Milliarden Jahren,
Wenn schweigend still das All zerstiebt
Und mit ihm auch die letzten Fragen,
Wird es die Welt, die’s nicht mehr gibt,
Niemals gegeben haben.“
Schon Heraklit schrieb dazu: „Nun ist der Bogen, dem Namen nach Leben, in der Tat aber Tod.“
Ist die Sinn-Suche also an die Angst vor dem Sterben gekoppelt? Versucht der Mensch Leben zu erklären, weil es den Tod gibt? „Authentizität oder Eigentlichkeit legen wir vor allem an den Tag, wenn wir jeden Moment im Licht unseres bevorstehenden Todes bevorstehen. Lebe als seiest du schon tot.“ (Warum es die Welt nicht gibt, Markus Gabriel)
Meine Angst vor dem Tod ist also nicht zu besiegen; alleine darüber zu reflektieren und in Worte zu fassen ist ein Ausweg, um mit ihm zu leben. „Dir fehlen die Worte und doch kehrst du zu ihnen zurück.“ (Hendrik Jackson, Panikraum)
Vielleicht können wir überhaupt leben, weil wir nicht wissen, ob und was danach kommt. Und die Angst, die gehört einfach dazu.
Sterben, um zu schlafen-
Schlafen: vielleicht zu träumen! Ja, da liegt‘s
Denn was in diesem Todes Schlaf wir träumen,
Wenn wir die ird‘schen Fesseln abgestreift,
Das lässt uns zaudern…
Wer trüge diese Lasten
Und stöhnt‘ und schwitzte unterm Joch des Lebens,
Wenn nicht die Furcht vor etwas nach dem Tod-
Dem unerforschten Land, von dessen Grenzen
Kein Wanderer wiederkehrt- den Willen lähmte
Und uns die alten Übel eher ließe
Ertragen als die Flucht zu unbekannten
Hamlet