Die Flucht
Ich bin’s
Die Frau
Die ungewollt allein gebliebene.
Bin vergessen worden
Von einem mit Beton gefüllten Menschen
In einer fremden Kälte
Im eisigen Wind.
Mein Blick richtet sich gen Himmel
Lange, rundherum
Dann zurück auf meine
Zerquetschten Finger
Ich schreie stumm.
Er schlägt mich noch fester
Die Kinder fangen an zu heulen
Mein Herz, heftig es pocht.
Immer wieder zieht er mich an den Haaren
Die Fäuste knallen mir auf die Ohren
Drauf, auch auf meine Nase
Das Blut sickert bis zum Boden.
Er schlägt zu
Schlägt so lange zu
Bis meine Augen
Ihren Glanz verlieren und
Versteinern.
Ich habe keine Ahnung
Warum er so was tut?
Ich bin wie ein Häschen
Das ins Licht starrt.
Er befiehlt ständig
Hey! Mach Essen
Geh Brennholz sammeln
Frau!
Du muss Getreide stampfen
Frau!
Koch Tee
Frau!
Wasser holen
Sofort!
Eigentlich
Am Anfang
Meines Lebens lief alles gut
Mein Mann und ich
Wir haben uns
Während der Flucht
In ein anderes Land kennengelernt.
Mein Hochzeitstag war märchenhaft
Wir hatten Frühling
Zu meinem großen Erstaunen
Sah ich eine Magnolienflut
Auf den Bäumen sogar
Einen puderrosa Farbton.
Wie von Zauberhand
Verwandelte sich die Natur
Über Nacht
In einen Garten Eden.
Mein Herz brannte
Vor Freude und Begierde.
Dann endlich näherten sich
Vom Berg hinunter ins Tal, umkreist vom Hochgebirge
Die Hochzeitstrommeln
Mit lautem Echo.
Der Klang war so imposant
Es bewegten sich Himmel und Erde.
Der Trommelklang
Vermischte sich mit Kindergelächter
In Rhythmischer Untermalung
In einem Kreis
Tanzender Männer und Frauen
Die schnell und hastig
Hin und her schwankend
Mit den Füßen kräftig aufstampften.
Der Trommelklang
Vermischte sich weiter
In das als Hochzeitsgeschenk
Mitgebrachte Meckern der Ziegen
Riesige Staubwolken überall.
Die Berge glühten
Bei sinkender Sonne.
Ich zog meine Hochzeitstracht
Mit Hilfe der Junggesellenfreundin
Mit bunten Bändern und Kordeln an.
Sie schminkten mich
Zuletzt
Trug ich einen langen seidenen Schleier.
Meine Mutter umarmte mich fest
Drückte ein Amulett weinend
In meine mit Henna bemalten Hände
Es war so ergreifend.
Ich sah die Frau im Spiegel
Während die Spatzen zwitscherten
Die Frau im Spiegel war sehr schön
Stolz mit langem seidenem Schleier
Sie kicherte weinend.
Im Verlauf
Meiner Hochzeit wurde Nachts weiter gefeiert
Bei Vollmond unter dem
Wie mit Samtblumen bestickten Himmel.
Mit meinem Mann saß ich Seite an Seite
Er hielt flüchtig meine Hände
Ich zog sie nicht zurück.
Rasch hatte er meine Wangen geküsst
Dabei versucht
Nah an meine Lippen zu kommen
Ich errötete
Blickte zu Boden.
Mir wurde warm ums Herz
Ich spürte seine Anspannung
Er glich einem gespannten Bogen.
Der Musiker sang
Über die Liebe
Er sang über die Nomaden
Der Musiker sang über die Natur
Er sang auch über das Exil.
Köstliches Fleischaroma schwebte in der Luft
Gegrillte Lammspieße würden verzehrt werden
Es roch atemberaubend lecker
Aber die Spieße drehten
Immer noch über der Glut.
Es roch nach Holzbrand
Es roch nach gebackenem Fladenbrot.
Die Kinder bekamen Süßigkeiten
Tobten rum wie Wilde
Alle Gäste drängten sich
Hungrig kniend auf dem Boden.
Ich muss weg
Nehme meine Jungen mit
Umdrehen werde ich mich nie
Egal ob ich in den Tod mich treibe
So beginnt unsere Flucht.
Es beherrscht mich
Eine riesige Wut.
Als wir morgens
Aus der Hütte treten,
werden wir vom Schnee erfasst.
Mit der weißen Pracht
Hatte sich die Welt
Beunruhigenderweise verändert.
Meine Jungen halten sich fest
Weinend
An meinem mit Blümchen
Gemusterten Rockzipfel.
Wir laufen mit gebeugten Köpfen
Durch die heftigen Schneefälle
In Richtung der
Höhnisch schauenden Berggipfel.
Oft springen wir
Über Maschendrahtzaun
In großer Eile.
Wir fliehen und
Er verfolgt uns.
Er verfolgt uns, fluchend
Durch enge Schluchten
Bleib hier, Frau!
Komm zurück!
Komm zurück!
Wieder immer wieder.
Ich höre das Echo wie ein
Laut schmetterndes Heulen
Einer Frau, bei der
Ein Dämon ausgetrieben wird.
Die Frau bin ich
Ich heule stumm.
Die Jungen jammern
In Dunkelheit bei
Klirrender Kälte
Sie haben Hunger.
Das letzte Stück Aschebrot verteile ich
Wir fliehen weiter.
Vorbei an Friedhöfen
Neben skurrilen Gestalten
Die in dem Schneeschleier
Langsam unsichtbar werden.
Wir laufen auf dem vereisten Weg
Durch das Grollen vom eisigen Wind
In großer Eile.
Dazu
Verfolgt uns das Wolfsgeheul.
Ich verliere das Gleichgewicht.
Ich zapple.
Wir schaffen es nicht mehr
Bis zu den Berggipfel.
Meine Jungen halten sich nicht mehr fest
An meinem mit Blümchen
Gemusterten Rockzipfel.
Sie liegen mit gebeugten Köpfen
Wie zwei Schneeglöckchen
Auf dem Schnee.
Der Schnee beginnt sich
Um uns aufzutürmen.
Die Kälte zieht
In mich herein.
Der Schnee
Schnürt mir die
Luft ab
Am liebsten hätte ich mich umgedreht
Und weitergeschlummert.
Ich höre Atemgeräusche
Ich höre Fußstapfen
Über knarrendem Schnee.
Unter der Eisschicht
Ich strecke die Hände
Gegen das schwache Licht.
„Hier!“ schreit eine Frau.
„Sie leben noch!“ ruft die andere.