Tanz der Schmetterlinge
Und so war es, dass Frau Rumpel ihren geliebten Garten abgeben musste.
Lange Zeit ihres Lebens war er ihr Ein und Alles gewesen, doch nun war der Augenblick gekommen, loszulassen. Loszulassen, um den womöglich letzten großen Schritt in ihrem alten Leben zu tun.
Doch was sollte aus den Vögeln werden? Wer würde sie füttern?
Wer ihnen ein Lied vorspielen?
Das Radio, das immer lief, wenn Frau Rumpel im Garten war, bleibt weg.
Die jungen Leute, die den Garten übernehmen, waren sicherlich nicht interessiert an ihren Vögeln und an den anderen treuen Besuchern ihres Kleingartens:
Zahlreiche Eichhörnchen, Kaninchen, auf die der Kleingartenverein alle Jahre wieder Jagd machte, weil sie den fleißigen Gärtnern die so mühsam hochgezogenen Salate und anderes Gemüse wegfraßen.
Frau Rumpel machte sich daraus nichts.
Im Gegenteil, sie freute sich, wenn sie die kleinen, flinken Gäste bewirten konnte. Schließlich konnte sie einfach in den nächsten Supermarkt gehen und sich Obst, Karotten oder wonach ihr auch immer war, einkaufen. Die felligen und gefiederten Freunde konnten das schließlich nicht.
Diese Tatsache den anderen Kleingärtnern näherzubringen, hatte sie mehrere Male versucht.
Die waren jedoch so sehr verärgert über die niedlichen Diebe und sahen vor lauter akkurat geschnittenen Rasenkanten, Unkrautvernichtungsmitteln und Grünschnitt das Leben nicht mehr.
Wie sehr Frau Rumpel es liebte, wenn der Frühling da war und nicht nur Blumen und Pflanzen aus dem Winterschlaf erwachten. Die Gärten wollten wieder mit der Frühlingssonne und den anderen Kleingärten um die Wette strahlen.
Auch die Kleinkriminalität in den Parzellen wucherte wie das stets treu wiederkehrende Unkraut in allen Beeten, Ecken und auf allen Wegen:
Dunkle Gestalten huschten mit Schubkarren voller Grünschnittabfällen während der Dämmerung in den benachbarten Wald oder in den nahegelegenen Grüngürtel.
Dort wurden dann die lästigen Naturreste in die Büsche oder einfach mitten in den Wald geworfen. Nicht versteckt, nein, so, dass es offensichtlich war, dass hier einer seinen Grünschnitt loswerden wollte und musste.
Die im Kleingarten geltenden Gesetze galten hier nicht. So durfte nur kleingeschnittenes Geäst oder sonstiges Grün auf dem Kompost innerhalb der Kleingartenanlage landen, zwecks besserer Zersetzung. Und gerne schielte man mit besorgter Miene auf den Komposthaufen der Nachbarn, um bei passender Gelegenheit die Länge der Schnitte mit anderen Nachbarn zu besprechen.
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Frau Rumpel machte sich immer einen Spaß daraus und blieb extra lange in ihrem Gärtchen an besagten Abenden, obwohl es recht frisch war, um das heimliche Treiben zu beobachten. Sie machte sich dann eine große Thermoskanne ihres Lieblingskaffees und setzte sich, wie sie annahm, recht unauffällig unter ihre Pergola.
Es war herrlich, mitanzusehen, wer alles bei diesem verbotenen Schauspiel mitmachte. Sogar Herr und Frau Fink, die den akkuratesten und gepflegtesten Garten weit und breit hatten, waren schwer zugange. Denn Grünschnitt gab es reichlich aber der musste auch entsorgt werden.
Am Nachmittag dieser Abende nahmen sie ein bis zwei Tütchen Bioabfall, mit dem sie demonstrativ durch die halbe Anlage liefen. Sie riefen jedem freundlich „Einen schönen Abend noch!“ und stiegen dann in ihr Auto und fuhren weg, um drei Stunden später, wenn es schon fast dunkel war, zurückzukehren.
So viele Jahre nun hatte Frau Rumpel dieses Schauspiel genüsslich beobachtet, doch jetzt war es vorbei. Nie wieder würde sie sich über das Doppelleben ihrer Kleingartenkollegen amüsieren.
Weder am Inventar, das sie über die ganzen Jahre, nein Jahrzehnte, mit viel Sorgfalt und Geschick ausgewählt und zusammengestellt hatte, noch an ihrem Radio hatten die Nachpächter Interesse gezeigt. Sie musste einiges entsorgen lassen, doch das Radio, sowie zwei ihrer Weinkelche wollte sie mitnehmen. Ihr Schwiegersohn hatte ihr zwar versprochen, ihr ein neues Radio zu kaufen, wenn sie das „alte Ding“, wie er es scherzhaft nannte, wegwerfen würde. Doch das brachte sie nicht übers Herz.
Nicht, nachdem es ihr stets treue Dienste erwiesen hatte. So viele Jahre hatte es sie sowohl in freudigen, lustigen, wie auch düsteren und einsamen Momenten begleitet.
Es war schon fast wie ein treuer Freund und stand ihr manches Mal näher als ihre eigenen Kinder. Wenn sie sich auf eines verlassen konnte, dann war es ihr Radio.
Nie vergaß sie, dass es ihr einmal vermutlich sogar das Leben gerettet hatte:
In jener Nacht war sie in ihrer Laube eingeschlafen. Erschöpft von der ganzen Gartenarbeit, hatte sie sich in ihr geblümtes Sofa fallen lassen und sich ein Glas ihres Lieblingsgetränkes zum Abschluss dieses heißen Sommertages gegönnt.
Sie liebte es, den Holundersirup mit kaltem Mineralwasser und einem Spritzer frisch geschnittener Zitrone aus dem Garten aufzufüllen.
Den Holundersirup hatte sie in Gemeinschaftsarbeit mit ihrer Freundin Lily zubereitet.
Denn der Holunder stand in ihrem Garten.
Es waren die wunderbaren Blüten des „verbotenen Baumes“, wie der Baum von den Kleingärtnern genannt wurde. Verboten, weil der neue Vorstand beschlossen hatte und es somit die Kleingartenverordnung besagte, dass Holunderbäume in der Kleingartenanlage nicht erlaubt und somit zu entfernen seien. Egal wie alt und groß diese schon waren und wie viele wunderbare Säfte sie beschert hatten.
Doch zum Glück hatte sich noch keiner an den Baum gewagt, der Frau Rumpels Vögeln im Winter Nahrung bot.
Nachdem sie sich den Rest aus ihrem Glaskelch in ihren Mund hatte tropfen lassen, hatte sie das Glas auf das Beistelltischchen gestellt und war sofort in einen tiefen Schlaf gefallen. Das Radio, ihr treuer Begleiter, sang sie dabei einen chaotischen Traum.
In ihrem Traum kämpfte sie gegen riesige Spinnennetze, die sich um ihre geliebten Hortensienblüten gewickelt hatten, bis sie kaum noch ein Blatt sehen konnte.
Sie entfernte einen Faden, doch er löste sich auf und es bildete sich sofort ein neuer. Sie träumte oft vom Garten, wenn sie wieder einmal besonders lange in der Sonne gearbeitet und die Hitze ignoriert hatte.
Plötzlich schrak sie aus ihrem unruhigen Schlaf auf, denn ein lauter Knall draußen hatte sie unsanft zurück in ihre Gartenlaube geholt. Sie sprang auf und lief zum Fenster. Sie hörte Stimmen und eilige Schritte entfernten sich über dem Kiesweg. Jemand war in ihre Parzelle eingedrungen und hatte es sich dann wohl doch anders überlegt. Ihr Herz klopfte laut bis zum Hals.
Ihr Traum hatte sie schon mitgenommen, doch diese Geräusche hatten sie direkt in einen Albtraum befördert. Als sie sich wieder auf ihr Sofa gesetzt hatte, merkte sie, dass ihr Radio noch laut lief. Sie beruhigte sich langsam und atmete bewusst tief ein und aus und versuchte, sich auf die Töne aus dem Radio zu konzentrieren.
Mittlerweile spielte keine Musik, sondern es lief ein Krimi-Hörspiel. Laute Männer-stimmen, die miteinander stritten. Womöglich hatte das die Einbrecher verjagt, vermutete sie.
Am nächsten Tag hatte sie erfahren, dass es mehrere Einbrüche in den Gartenlauben gegeben hatte.
Als sie ihren Kindern von dem Vorfall erzählt hatte, hatten diese nur mit ihr geschimpft, wieso sie sich so viel alleine im Garten aufhielte.
Nun war es auch damit vorbei, und Frau Rumpel bezog womöglich mit dem Einzug in das Seniorenheim, das sie sich nach langem Überlegen und auf Drängen ihrer Kinder ausgesucht hatte, ihre letzte Wohnstätte. Der Auszug aus ihrer Wohnung hatte sie nicht so sehr geschmerzt, wie das Abgeben ihres geliebten Gartens. Es hatte sie innerlich zerrissen. Sie fühlte sich, als würde sie einen Teil von sich für immer dort lassen müssen, und die Ungewissheit, wie die Nachpächter damit umgingen, machte sie noch unruhiger.
Doch eine andere Ungewissheit nagte auch an ihr: Was erwartete sie in dem Seniorenheim?
Sie hatte darauf bestanden, ohne Begleitung ihrer Kinder den Weg in ihre wohl letzte Bleibe zu machen. Als sie aus dem Taxi stieg, hatte sie nur eine Tasche und ihr Radio in der Hand. Der Rest ihrer Sachen würde mit einem Transporter gebracht werden. Sie lief den grau asphaltierten Weg hoch bis zu einem Schild, das auf den Eingang des Hauses wies.
Es war ein großes, hellblaues und rundlich gebautes Gebäude. Es sah nicht so unfreundlich aus, wie Frau Rumpel es in Erinnerung hatte. Sie ging zum Eingang, den gläserne automatische Schiebetüren bildeten. Ihr stockte nun fast der Atem und sie spürte ihren Puls rasen. Sie hatte Angst ohnmächtig zu werden, obwohl ihr das noch nie passiert war. Da kam ihr eine freundlich grüßende junge Frau entgegen: „Guten Tag! Kann ich Ihnen helfen?“ Frau Rumpel wusste nicht, was sie antworten sollte und blickte nervös um sich. Vermutlich wirkte sie furchtbar verwirrt. Sie atmete tief ein, hielt die Luft an, zählte bis sieben und stieß die Luft langsam wieder aus. Dann sagte sie: „Guten Tag, mein Name ist Rumpel und ich habe hier ein Zimmer gebucht.“ Die Frau lachte und fragte, ob sie ihr beim Tragen helfen sollte. Frau Rumpel lehnte dankend ab und versteckte ihr Radio hinter ihrem Bein.
„Kommen Sie mit. Ich werde nachschauen, wo wir hinmüssen.“ Hatte sie wirklich „wir“ gesagt, fragte sich Frau Rumpel. Sie ärgerte sich und fühlte sich bevormundet.
„Nehmen Sie doch bitte im Foyer Platz und ich bringe Sie gleich weiter!“ sagte die junge Frau.
Frau Rumpel nickte stumm und setzte sich auf einen Sessel in der Nähe des Empfangs. Sie schaute sich um und sah einige Menschen, die in ihrem Alter oder älter waren. Einige wirkten ganz munter und fit und andere gingen an Gehstöcken, an Rollatoren oder im Rollstuhl.
Das war nun ihr Zuhause und das waren ihre Nachbarn. Keine Eichhörnchen, Schmetterlinge, Kaninchen und Vögel mehr.
Die Angst ergriff sie wieder und dieses Mal mischte sich etwas Verzweiflung in das mächtige Gefühl. Sie stand ruckartig auf und da kam ihr auch schon die Frau, die sie empfangen hatte, entgegen. „Frau Rumpel, wir können hochgehen. Ihre Wohnung befindet sich im 2. Stock.“
Sie lächelte Frau Rumpel aufmunternd zu und lief in Richtung eines Aufzuges.
Frau Rumpel trottete ihr hinterher, ohne nach rechts und links zu blicken. Sie wollte am liebsten niemanden mehr sehen und schon gar nicht ihre neuen Mitbewohner.
Sie umklammerte ihre Tasche und ihr Radio so fest, dass Ihre Finger bereits schmerzten.
Im Aufzug angelangt fühlte sie sich völlig erschöpft und ihre Beine waren schwer wie Blei. „Geht es Ihnen gut?“, fragte die junge Frau und legte ihr eine Hand sanft auf den Oberarm. Frau Rumpel zuckte zurück, und schüttelte ihren Kopf und antwortete barsch: „Ja, es geht mir sehr gut!“
Endlich waren sie auf der zweiten Etage angekommen und der Aufzug hielt.
Erst stieg die Frau aus und dann Frau Rumpel.
Sie folgte ihr einen langen Flur entlang. Überall waren Sitzgelegenheiten und hier und da standen paar Blümchen auf den Beistelltischchen und auf den Fensterbänken im Gang. Wenigstens war es hell, und offensichtlich gab man sich hier Mühe, dass es nicht ganz leblos wirkte.
Die junge Frau blieb an einer Tür stehen und zeigte auf das Schild nebendran. Es war ein gelber flatternder Schmetterling aufgedruckt. „Das ist die Schmetterlings-wohnung“, sagte sie freundlich lächelnd. Frau Rumpel starrte auf das Schild und wusste nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Sie beschloss einfach nichts zu denken und schwieg.
Die Frau schloss die Türe auf und öffnete sie nach innen. „Hier ist es. Herzlich willkommen! Das ist Ihr Reich.“
Frau Rumpel blickte in einen kleinen Vorraum, und sie traten beide ein.
„Möchten Sie allein sein oder soll ich Ihnen kurz alles zeigen?“ fragte die Frau.
„Nein, bitte lassen Sie mich alleine“, antwortete Frau Rumpel.
Die junge Frau nickte und sagte noch: „Um 15.30h gibt es Kaffee und Kuchen unten im blauen Saal. Fragen Sie einfach danach.“
„Ist gut“, erwiderte Frau Rumpel und drehte sich einfach weg. Sie wollte nur allein sein.
Sie ging paar Schritte weiter in den Raum hinein und stellte ihre Tasche und ihr Radio auf dem Boden ab. Das Zimmer war hell und sauber und nicht so klein, wie sie es sich vorgestellt hatte. Bei der Besichtigung damals hatte man ihr ein anderes Zimmer gezeigt.
Doch was war das? Eine Balkontür in ihrem Zimmer. Sie lief zu ihr hin und sah, dass ein mittelgroßer Balkon sich ihr anschloss. Frau Rumpel war plötzlich ganz aufgeregt und trat auf den Balkon hinaus. Sie sog gierig die frische Luft ein und blickte hinaus. Hier kann ich es mir doch auch ganz gemütlich machen, dachte sie sich. Sie ging hinein, holte einen Stuhl, ging wieder rein, holte ihr Radio und setzte sich schließlich mit ihrem Radio im Schoß auf den Stuhl.
Sie schaltete ihr Radio an und schon hörte sie ihren Lieblingssender und es trällerte: „Immer wieder kommt ein neuer Frühling…“ Auf ihr Radio war eben Verlass.
Zum ersten Mal an diesem Tag entspannte sie sich etwas und lächelte leise vor sich hin. Da setzte sich ein kleiner Spatz auf ihr Balkongeländer und blickte sie neugierig an. Frau Rumpel begrüßte ihren Besucher: „Na, mein Kleines. Hast Du Hunger?“