Sommertage in der Heimat
Die ganze Nacht hindurch höre ich Regentropfen auf das Dach des Blockhauses fallen. Am Morgen schimmern die Birken und Kiefern vor Feuchtigkeit und die Heidelbeersträucher am schmalen Pfad machen meine Beine nass, während ich zum Seeufer laufe. Ich friere, obwohl ich ein Handtuch über meinen Badeanzug gebunden habe. Auf dem Steg angekommen lasse ich den Blick nach rechts zum gegenüber liegenden Ufer streifen und betrachte einige Anlegebrücken, an denen kleine Boote schaukeln. Etwas weiter oben, kaum sichtbar hinter den Bäumen, stehen Sommerhäuser. Auf der linken Seite liegen bewaldete Inseln, dicht beieinander. Überall in der Ufernähe ragen, vom Schilf umgeben, graue und bräunliche Steine hervor. Ich werfe mein Handtuch auf die Bank am Stegende und steige ein paar Stufen auf der Leiter hinab. Ein leichtes Schaudern läuft durch meinen Körper, bevor ich ins Wasser springe. Nach einigen Zügen spüre ich einen Stein unter den Füßen und bleibe stehen. Das Wasser fühlt sich erfrischend an, und ich schwimme eine kurze Strecke vorwärts und wieder zurück, immer wieder. Im Schilf, neben Seerosenblättern, entdecke ich eine Ente mit ihrem Jungen, und eine kurze Zeit schwimmen wir Kopf an Kopf. Ich klettere auf den Steg und sehe ein Thermometer, das an einem Stück Schnur im Wasser schwimmt, und ziehe es hoch: 18 Grad. Es ist Ende August, die heißen Sommerwochen sind vorbei, und das Wasser in den finnischen Seen hat sich schnell abgekühlt. Auf dem Weg zurück zum Blockhaus kommt mir Joachim entgegen, eingemummt in ein Badetuch. “Warst du wirklich drin?“, fragt er mich. „Ich gehe doch immer morgens schwimmen, wenn ich am See bin“, gebe ich zurück. Dann bleibe ich auf der Terrasse stehen und beobachte, wie er zögernd auf der Anlegebrücke steht. Als Joachim es merkt, steigt er schnell die Leiter hinab und springt in den See.
Zum Frühstück gehen wir in das größere Sommerhaus. Es ist gelb angestrichen, die Fensterrahmen sind dunkelrot, und in dem steilen Dach befindet sich eine Gaube, die sehr einladend wirkt. Wir treten ein und setzen uns an den Tisch zu unseren Gastgebern Marja und Will. Genüsslich trinke ich heißen Kaffee und blicke dabei zwischen den Kiefernstämmen hindurch zum See. In der weißen Wolkendecke sind blaue Lücken entstanden. „Wollen wir zusammen einen Spaziergang machen?“, fragt meine Schwester. „Ich muss zum Suhola-Hof, um meine Schulden zu bezahlen.“ Wir decken den Tisch ab und laufen los. Der schmale Weg, in dessen Mitte Gras wächst, schlängelt sich durch den Wald, hier und da geht ein Weg nach rechts oder links ab zu anderen Sommerhäusern. Ich sehe hoch zu den Baumwipfeln, der Himmel hat sich aufgeklart und die Sonnenstrahlen färben die Luft golden. Am Hof angekommen geht Marja hinein, und ich setze mich draußen mit Joachim und Will auf eine Bank. Bald erscheint eine ältere Frau auf der Treppe und bittet uns hereinzukommen. Wir betreten eine geräumige Bauernstube. „Bitte, nehmt Platz am Tisch“, sagt Frau Suhola, schaltet die Kaffeemaschine ein, stellt Tassen auf den Tisch und schneidet Scheiben vom Hefezopf und dem Topfkuchen ab. Wir sprechen über das Wetter, das Sommerfest, das vor kurzem stattgefunden hatte, und über die Straßenbauarbeiten auf der Strecke zum Kirchdorf. „Ist es ein gutes Beerenjahr?“, frage ich die Bäuerin. „Es geht so, Heidelbeeren gab es mittelmäßig, aber so eine üppige Ernte von Himbeeren wie vor ein paar Jahren gab es seitdem nicht mehr“, antwortet Frau Suhola. „Damals hatte ich eine besonders gute Stelle auf einer Lichtung gefunden, wo sich die Himbeerzweige voller schöner großer Beeren bogen. Eifrig fing ich an zu pflücken, aber nach einer Weile hörte ich Geräusche in der Nähe und schaute hoch. In kurzer Entfernung vor mir stand ein Bär.“ „Und dann?“, rufe ich erschrocken und sehe sie an. „Dann bin ich langsam zurückgegangen, zuerst rückwärts, und der Bär ist geflüchtet. Erst, als ich durch den Wald an der Straße angekommen war, wo mein Fahrrad stand, habe ich gemerkt, dass ich meinen Eimer auf einem Stein vergessen hatte. Also bin ich zurückgegangen und habe gepflückt, bis das Gefäß voll war. Ich musste ja keine Angst haben, die Bären sind menschenscheu und werden nur aggressiv, wenn sie sich in Gefahr wähnen“, erzählt sie gelassen. „So eiserne Nerven hätte ich nicht gehabt, wenn ich in so eine Situation geraten wäre“, stelle ich fest. „Dem Bären bin ich allerdings noch eine ganze Weile im Traum begegnet“, fügt Frau Suhola hinzu. Nachdem ich die Geschichte für Will und Joachim bis zum Ende übersetzt habe, tun auch sie ihre Bewunderung kund. Auf dem Nachhauseweg ist mir sonderbar zumute. Früher, in meiner Kindheit, gab es Bären nur in Lappland und Nordkarelien, aber nicht hier im südlichen Teil des Landes.
Am späten Nachmittag beschließen wir eine Bootstour zu machen. Die Männer montieren einen Motor in das Ruderboot, alle ziehen sich eine Rettungsweste an und setzen sich auf die harten Holzbänke. „Kannst du den Motor bedienen?“, fragt Will Joachim. „Ich werde es versuchen“, antwortet dieser und rudert ein Stück vom Ufer weg, danach zieht er an der Anlasserschnur. Nichts passiert. „Zuerst ganz langsam ziehen und dann kräftig“, rät Will, und bald rattert das Boot los. Gut, dass wir die Ruder mithaben, für alle Fälle, denke ich. Wir fahren zwischen Inseln, und Will lotst uns an Steinen vorbei. Es gibt sie in allen Größen; einige ragen aus dem Wasser hervor, andere befinden sich dicht unter der Oberfläche, und man kann sie erst spät entdecken. Ich verlasse mich darauf, dass Will sich gut auskennt, auch ohne eine Karte. Aber von hier aus könnte man noch zu einer Insel oder zum Festland schwimmen, falls wir einen Stein rammen. Möwen kreisen in der Luft und setzen sich auf die Felsen und Steine. Aus einigen Saunas steigt Rauch empor und kringelt sich in der Luft, um später auf das Wasser zu sinken, in dem sich die Bäume spiegeln. Bald steuern wir auf den offenen See zu, und ich ziehe mir den Kragen hoch und halte mich fester an der Bank. Gut, dass der Wellengang niedrig ist. Links ist ein schmaler Sandstrand und ein ganzes Stück weiter vorn, wo der See endet, breiten sich graue Felsen aus. „Wie groß ist der See?“, frage ich und wende mich meiner Schwester zu. „Nicht sehr groß“, antwortet sie, „nur zehn Kilometer lang.“ Vor dem Felsenufer wenden wir und fahren in der Abendsonne heimwärts. Ich atme tief ein und versuche die vorbei gleitende Landschaft als Erinnerung zu speichern. Nach einiger Zeit kommt mir die Gegend bekannt vor, und in unserer Bucht angekommen, schaltet Joachim den Motor aus, lässt das Boot in Richtung Ufer gleiten, greift dann nach den Rudern und steuert langsam auf den Steg zu. Mit Mühe steige ich aus und räkele mich, bis die Gelenke wieder locker geworden sind.
Später holt Joachim Holz, das sich an der Werkstatt stapelt, und heizt die Sauna. Ich fülle den Wasserspeicher am Ofen. Das Gebäude ist klein, gerade für zwei Leute ausreichend. Bei 80 Grad gehen wir hinein. Nachdem ich richtig ins Schwitzen gekommen bin, laufe ich zum Steg. Auf dem Weg dorthin verschwindet die Wärme fast, aber ich fühle mich entspannt schon nach den ersten Schwimmzügen. Abwechselnd gehe ich in die Sauna und in den See, bis mich wohlige Müdigkeit überfällt. Die Sonne sinkt immer tiefer und verschwindet hinter dem Wald. Die Wasseroberfläche glitzert nicht mehr, und ich kann nur noch die Silhouetten der nahe liegenden Inseln erkennen. Es war so ein strahlender Tag, und ich erinnere mich daran, dass solche Tage am See für mich – schon als Kind – zu den glücklichsten Erlebnissen zählten.
Am nächsten Tag wollen wir zusammen das Grab der Eltern besuchen und fahren eine gute Stunde, bis wir an einer mittelalterlichen Kirche ankommen. Sie ist aus Natursteinen gebaut, genau wie der Glockenturm, der unweit davon steht. Vor dem Grabstein der Eltern ist ein kleines Feld für Blumen, sonst besteht das Umfeld aus grüner Wiese. Ich entferne das Unkraut und setze die herbstlichen Pflanzen ein, die wir unterwegs besorgt haben, und begieße sie reichlich. Auf den meisten anderen Gräbern blühen rote Petunien und Geranien, die von der Friedhofsgärtnerei eingepflanzt worden sind. „Ich will keine Einheitsblumen auf meinem Grab“, hatte Mutter gesagt. Sie hatte „Tränende Herzen“ aus ihrem Garten auf das Grab gesetzt, als Vater dort noch allein lag. Im ersten Sommer nach ihrem Tod hatte meine Schwester eine Tabakpflanze hingebracht. Ich muss lächeln, wenn ich daran denke. Mutter hatte als junge Frau mit dem Rauchen angefangen und es war ihr nie gelungen, damit aufzuhören. Am meisten ärgerte sie sich über die Geldverschwendung. Im Sommer konnte man oft „Rauchzeichen“ emporsteigen sehen. Mutter hatte sich auf eine niedrige Terrassenstufe gesetzt, um sich eine Zigarettenpause zu gönnen. Vom Zimmer aus war sie unsichtbar.
Wir möchten noch in die Kirche hineingehen, es klingt jedoch Musik heraus, und so bleiben wir vor der Tür stehen. Nach einer kurzen Zeit geht die Tür auf und ein Brautpaar erscheint auf der Treppe und wird von den Gästen umringt. Eine Weile sehen wir der Hochzeitsgesellschaft zu und betreten danach die Kirche. Vor dem Altar liegt ein aus Wolle geknüpfter Teppich in sanften Grautönen. „Wie alt ist dieser Hochzeitsteppich?“, frage ich eine Frau, die beim Aufräumen ist. „Er stammt aus den dreißiger Jahren, und seitdem sind alle Hochzeitspaare darauf getraut worden“, antwortet sie. „Dann standen auch wir darauf vor fast 40 Jahren, es war der letzte Samstag im August, genau wie jetzt“, erzähle ich und sehe die Frau an. „Ah ja“, sagt sie und arbeitet weiter. „Der Pfarrer hat gut Deutsch gesprochen“, sagt Joachim und wendet sich Marja und Will zu, „er hat uns vor der Trauung in der Sakristei Witze erzählt, um uns aufzulockern. Ich denke daran, wie Mutter am Morgen des Hochzeitstags aus dem Fenster geschaut und gesagt hat: „Sonne und Wolken, so wie im Leben.“
Von der Kirche aus fahren wir einige Kilometer zu dem Ort, in dem unsere Eltern lebten. Langsam passieren wir das Haus, das früher ihnen gehörte. Hinter der hohen Hecke ist der gelbe Bungalow kaum zu sehen. Wir fahren weiter und sehen uns das Gebäude von der anderen Seite an. Der Garten grenzt an ein Birkenwäldchen, und so hat das Haus die schönste Lage in der Siedlung. Mein Vater hatte sich zusammen mit anderen dafür eingesetzt, dass die Gemeinde das Birkenwäldchen nicht zu einem Park umwandelte. Wir kommen noch mal zu der Vorderseite des Hauses und bleiben stehen. Ich gehe vor und klingele an der Tür. Frau Numminen öffnet, erkennt uns und bittet uns herein. Nur mühsam geht sie ins Wohnzimmer und bietet uns ein Glas Wasser an. Sie erzählt, dass der Sohn heute da gewesen sei und den Rasen gemäht hat, da ihr Mann schon länger krank ist. Dann führt sie uns durch das Haus, und ich sehe, dass hier nicht tapeziert worden ist, seit mein Vater es gemacht hatte. Am Saunafenster hängt sogar noch unsere alte Gardine. Alles wirkt verbraucht, und mir ist nicht wohl zumute. Als wir zuletzt hier waren, vor vielen Jahren, war es noch sehr gepflegt, auch der Garten. Marja und ich hatten uns darüber gefreut, dass das Haus in guten Händen war. Beim Weggehen betrachte ich die Außenwand; ein neuer Anstrich wäre längst notwendig gewesen. Von der Straße aus fällt das nicht auf, da die Hecke sehr hoch ragt. Die jetzigen Hausbesitzer können nicht mehr selbst renovieren, und Handwerker sind teuer, schließe ich daraus für mich. Ich denke daran, dass es der Herzenswunsch unserer Mutter war, das Haus in der Familie zu behalten. In ihren letzten Lebensjahren hatte sie jedoch oft resigniert gesagt, dass es in fremde Hände käme. Dabei hatte ich immer ein schlechtes Gewissen gehabt.
Bald verabschieden wir uns, um zurück zu fahren, und wählen eine andere Route als in der Frühe, ohne Schnellstraße. Wir passieren kleine Dörfer mit Holzhäusern, fahren an Getreidefeldern, Wiesen und Wäldern vorbei, und gelegentlich kommt auch ein See in Sicht. Ich genieße die ruhige Landschaft. An dieser Straße hat sich kaum etwas geändert. Als wir unser Domizil erreichen, ist die Sonne noch sichtbar, und ich beschließe einen Spaziergang zu machen. Zuerst laufe ich ein Stück zurück auf dem schmalen Weg und biege dann ab auf einen Pfad, der sich hoch auf einen Hügel schlängelt. Auf dem moosbedeckten Boden wachsen Preiselbeeren, die noch eine blasse rötliche Farbe haben. Junge Birken und Fichten finden sich zwischen hohen Kiefern, und hier und dort steht ein Wacholderbusch. Oben auf dem Hügel angekommen steige ich auf einen großen Stein, setze mich hin und gehe in Gedanken die Geschehnisse des Tages durch. Dazu gesellen sich Erinnerungen an früher, und viele Bilder kommen. Ich stehe erst auf, als es dämmerig geworden ist, und laufe langsam den Pfad herunter. Dabei kommt mir ein Gedicht in den Sinn:
„Heute fanden meine Schritte mein vergessnes Jugendtal,
seine Sohle lag verödet, seine Berge standen kahl.
Meine Bäume, meine Träume, meine buchendunkeln Höhn –
ewig jung ist nur die Sonne, sie allein ist ewig schön.“ *
* Aus “EWIG JUNG IST NUR DIE SONNE“, von Conrad Ferdinand Meyer
Tuula Greß, Januar 2012