Literatur Club

Petra Kunik

Sag es deinem Kind

 

Erzogen, als braves jüdisches Mädchen , lernte ich von meiner Mutter die Schabbatkerzen anzünden, das backen der Schabbat-Brote-Zöpfe und koschere Haushaltsführung.

Mein Vater erzählte aus dem Talmud, den Interpretationen der großen Rabbinen:

Jetzt, nach der Zerstörung des Tempels steht der häusliche Tisch im jüdischen Haus, mit den leckeren rituellen Speisen, in seiner symbolischen Bedeutung für den Altar und die Frau im Heim ist die Priesterin, in kultureller Verantwortung.

Die hebräische festgelegte Bezeichnung Sechut Awot-Wertvorstellung, meint wörtlich „Verdienst der Väter“. Trost? Die Mütter sollen mitgedacht werden…

Erst als ich mit der Zuschreibung „in der zweiten Reihe“ für mich und meine Töchter nicht mehr zufriedengeben wollte, stürzte ich mich mit gleichgesinnten Jüdinnen in das Abenteuer: Frauen studieren den Tanach-die hebräische Bibel.

Die neue Leseart schenkte uns frische Einblicke in jüdische Frauengeschichte und so bejahende Identität.

Beispiel Exodus 19,3: Da stieg Mosche hinauf und der Ewige rief ihm zu vom Berge und sprach:

Also sprich zum Haus Jakob und verkünde den Kindern Jsraél.

In der rabbinischen Deutung ist die Frau das Haus des Mannes.

Demzufolge sollte Mose die Gebote zuerst den Frauen sagen, denn sie sind es die die Kinder zum Lernen anhalten, von Generation zu Generation.

 

Petra Kunik Schriftstellerin/Referentin

Alexandra Arenas

Alexa

In diesem Gewirr und Strudel
Verliere ich mich

Erzähl mir von den Himmeln
der Wärme
dem Nachwuchs
Nicht von umgekehrten
Frühlingen

Erzähl mir vom Tau
und Fingern in der Erde
für das Leben und Früchte
und Kirschen

Nicht von den offenen
Mündern
und Kindern
kalte Metalle
als Flaggen
verschlingend

Erzähl mir vom Grün
und der Umarmung
ohne die
endlose Anzahl
der Schädel
ins Auge zu fassen

Joanna Manc

***

Ich bin der Baum auf dem Feld
mit tief hängenden Zweigen –
silberglänzend.

Ich bin der Grashalm zwischen den Gleisen,
die Eile des Zugs und der Räder,
die die Stille in zwei Stücke schneiden.

Ich bin der Wind auf dem See im Osten,
der das Wasser kräuselt
und sich am Waldrand im Nebel verirrt.

Ich bin der Regen,
der die Asphaltstrasse herunterrinnt,
der Gestank über der Stadt,
der die Asphaltstrasse herunterrinnt,
der Gestank über der Stadt,
nachmittags, wenn die Augusthitze
durch die Hinterhöfe kriecht.

Ich bin der Schritt des Vorübereilenden,
der Klang seiner Absätze
auf dem kahlen Bürgersteig,
das Echo in den Gassen.

Ich bin das zaghafte Licht der Straßenlaternen
kurz bevor der Mond aufgeht
und der Große Wagen vorfährt.

Sopot-Berlin, 29.8.15

Glück

Unter normalen Umständen
nicht gesellschaftsfähig
von den Alltäglichkeiten des Alltags
misstrauisch beäugt
bei den Lebenden wenig beachtet
in den meisten Fällen sogar unerkannt

(sein entfernter Verwandter
– der Unmut –
erfreute sich schon immer
einer viel größeren Aufmerksamkeit)

Und doch …
es lässt sich nicht so leicht abschütteln

Zwischen den Blättern des Apfelbaums
vermischt es sich mit dem Saft
der Früchte, die ihre Rundheit
in unsere Hände legen

Es schlägt mit den Wellen ans Ufer
an das sandige Hellgrau
wenn die Sonne von der eigenen Hitze taumelnd
untergeht und der Tag tief Atem holt

Manchmal platzt es – auf Bach‘schen Noten reitend –
in unsere Zimmer
und macht sich tosend breit
dass die Augen schwitzen

Kinder und Hunde erkennen es am schnellsten
spüren sofort den vertrauten Geruch

Krakau-Warschau, 3.1.1995
Frankfurt, 10.8.2014

Klezmer

Musik wie
ein Besuch bei fernen Verwandten – Orient,
aber irgendwie heimisch,
fast stubenwarm.

Der Klang der Klarinette wie
in endloses Gebet
derer, die nicht mehr da sind, die
noch immer da sind, weil sie so sehr
gehen mussten.

Frankfurt, 29.8.1996 
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall

mit dem gesicht nach oben  (für j.)

mit dem gesicht nach oben liegst du nachts
dort wo dich die erde zudeckt

mittags stehst du mit uns über dir
schaust in die stille des friedhofs
die an den bäumen lehnt

wenn wir wieder gehen
legst du die sonnenstrahlen auf unsere schultern
und auf den pfaden glitzern die blätter

abends die helle lampe über dem tisch –
wir schneiden brot auf
machen tee

mit dem gesicht nach oben
lächelst du

Frankfurt, 26.2.08
Übersetzung aus dem Polnischen

Nadja Bauernfeind

Der letzte Winter

Ich sitze bedrückt im Auto und fahre immer geradeaus vorbei an starren Feldern und Wiesen. Kein Mensch scheint unterwegs und es herrscht eine undurchdringliche, dumpfe Stille. Nasse Flocken wirbeln vor der Wind-schutzscheibe. Die Schneeschicht ist frisch und dünn. Grasbüschel und schwarze Erdhaufen sind versunken. Vereinzelt sind nackte Obstbaumgerippe zu erkennen.  Am Horizont verschwinden flache Häuser und dunkle Dächer.

Vor dem Krankenhaus ist eine riesige Baustelle. Gerüste wachsen um neue Gebäudekomplexe in die Höhe. Auf den Bürgersteigen und Zugangswegen sammelt sich der Betonstaubschlamm in den Pfützen. Im Eingangsbereich herrscht rege Betriebsamkeit. Besucher und Familien sitzen beieinander und flüstern oder schweigen sich an. Patienten mit verlorenem Blick schlurfen mit ihrem Gestell für den Nährlösungsbeutel  durch die Flure. Vor den hohen Fenstern wirken sie wie Schatten in einem diffusen, gleißenden Gegenlicht. Wir laufen einen  abschüssigen Gang entlang ins Erdgeschoss. Die Farbe der verschrammten Wände ist nikotingelb und dreckig; ich erkenne Schleifspuren von durchgeschobenen Betten. Ein  paar amateurhaft gemalte Aquarelle mit kleinen Landschaften sind weiter oben angepinnt, alles rührende, hilflose Bemühungen, um der Trostlosigkeit etwas entgegenzusetzen.

Ich gehe und sehe doch nichts.

All diese Eindrücke gelangen nur sehr langsam und gedämpft in mein Bewußtsein . Und doch wirken sie wie eine Wand, die unerwartet vor mir auftaucht.

Mein Vater, er ist im Sommer 85 geworden, liegt hier. In einem Zweibettzimmer mit einem Mann zusammen, der zehn Jahre jünger ist. Er ist der „Oberschenkelhalsbruch“, mein Vater „der Herzinfarkt“. Es passierte vor drei Wochen, Mitte Januar in der Nacht. Meine Mutter hatte sofort den Notarzt gerufen.

Ich weiß nicht viel von meinem Vater, vielleicht kenne ich ihn gar nicht richtig, obwohl er seit über sechzig Jahren mit meiner Mutter verheiratet ist. Er hat uns auch nie verlassen. Eher im Gegenteil – er hat sich aufgedrängt, sehr penetrant-… sehr laut… und das sehr oft.

Ich habe meinen Vater nie gemocht. Er hat mir keinen Raum und keine Luft zum Atmen gelassen. Vierzig Jahre habe ich Zeit und Energie aufgebracht, ihn abzulehnen.

Das letzte Mal habe ich meinen Vater vor zwei Tagen gesehen. Es war schon dunkel, als ich gegangen bin. Ich habe ihm beim Hinausgehen leise zugewinkt, da saß er noch am Tisch, aß ein paar Löffel Brei und trank etwas Tee. Es hatte ihn unendliche Mühe gekostet, sich vom Bett zu erheben, wozu er sich ganz spontan entschlossen hatte, um sich vorsichtig am Rollator hochzuziehen und mit Hilfe der Schwester zum Tisch zu bewegen. Es hatte lange gedauert. Bei jedem Schritt hatte ich Angst, er fällt. Am Tisch schließlich sank ihm sein Kopf des Öfteren auf die Brust, die Augen fielen ihm zu und er nickte immer wieder kurz weg. Zuvor hatte er noch im Bett gesagt, er fühle sich angenehm müde. Wahrscheinlich von den Spritzen, die er gegen die Schmerzen bekam.

Ich saß dabei, schaute ihn an, berührte seinen Arm und versuchte, ihm beim Essen und Trinken, das auf dem Tablett verteilt war, zu helfen. Ich bin unsicher und etwas tollpatschig bei alltäglichen Handreichungen, mir fehlt der Überblick – ich weiß nicht warum, manchmal bin ich verzweifelt darüber.

Zwei Tage zuvor, am Sonntag, hat er eine ergreifende Abschiedsrede gehalten. Er trug sein Gebiss nicht mehr, weil es ihn in der Mundhöhle drückte. Sein Gesicht in dem Krankenhauskissen war kleiner geworden und um Jahre gealtert und wirkte gütiger. Aus seinen blauen Augen war diese mörderische Kälte ge-wichen. Sein Körper wirkte wie aus Elfenbein.

Ich sah diesen uralten, klein gewordenen Mann, fast verloren in diesem Krankenhausbett, nahm ihn wahr, wie er sich bemühte, uns mit seinen Worten   zu erreichen. Er sprach mit einigen Pausen, großen Augen und rang deutlich um den letzten Frieden mit sich, seiner Umgebung und mit Gott. Uns allen ist das nahegegangen. Er hat uns erreicht.

So wurde er immer ruhiger.

Keine Wut mehr, kein Poltern, kein Dröhnen mehr, kein Schreien. Er wird mich nicht mehr in Angst und Schrecken versetzen.

Er verwendete Worte wie „egoistisch“ und „blind“ und beschrieb damit, die Art, in der er mit mir umgegangen wäre. Und er habe viel Porzellan zerschla-gen. Und es sei nicht wichtig, dass wir uns erst in den letzten drei Wochen seines Lebens ausgesöhnt hätten.

Seit er ins Krankenhaus gekommen war, bin ich ihn fast jeden zweiten Tag besuchen gegangen auf drei verschiedenen Stationen, in drei verschiedenen Zimmern und in zwei verschiedenen Städtchen, aber immer mit demselben Zimmernachbarn. Ich glaube, mein Vater war froh für diesen Mann. Ich kann mir vorstellen, dass er Sicherheit und Ansprache bei ihm suchte und also darum bat mit ihm in das andere Krankenhaus umzuziehen.

Stets hatte er nur wenige Dinge um sich:  Ein Foto von mir und meinem Hund mit grau gewordener Schnauze, das ich ihm anfangs gebracht hatte, als er einen ganzen Tag nicht mehr bei Bewußtsein war und niemand ahnen konnte, ob er noch mal aus dieser Art Koma erwachen würde. Ein Schüttelherz aus Plexiglas von meiner Mutter, auf das sie „Gute Besserung“ geschrieben hatte. Und ein schmales Inselbändchen mit ein paar Goetheversen, das ich ihm als Teenie mit einer Widmung geschenkt hatte. Damals hatte ich noch nicht gewagt, unsere Beziehung völlig in Frage zu stellen.

Schließlich  sagte er, dass er alles habe, was er brauche. Ihm fehle nichts und er vermisse nichts. Er fühle sich aufgehoben und geborgen  und zeigte mit beiden Handflächen nach oben.

Er aß nichts mehr, trank kaum noch was, und es sah so aus, als nähme er auch seine Medikamente nicht mehr. Er war frei geworden, ganz bei sich, wahrhaftig und demütig.  So, als habe er tatsächlich keine Angst. Stück um Stück schien er die  weltlichen Dinge und den Ballast von sich geworfen zu haben. Auch seine Eitelkeit, von der er in seinem Leben so reichlich besessen hatte. Und wir wurden staunend Zeuge dieser inneren und äußeren Wandlung.

Am Schluss hatte er gar nichts mehr. Nicht einmal seine drei Bücher, die er geschrieben hatte und auf die er so stolz gewesen und mit denen er angegeben hatte, interessierten ihn noch. Auf sie angesprochen, winkte er ab an jenem letzten Sonntag, an dem ich neben seinem Bett saß und ihm die Hand hielt. Ihn so oft zu besuchen war mir nur möglich, weil er aufgehört hatte, aggressiv und ungeduldig zu sein. Stattdessen legte er eine ungewöhnliche Ruhe und Zärtlichkeit an den Tag. Er schaute mich lange still an, wie staunend. Und er lobte mich.

Einmal sagte er, ich sei ein gutes Kind, was ich das erste Mal von ihm zu hören bekam und was ich nicht wieder vergessen werde, genau so wenig wie seine maßlosen Tobsuchtsanfälle, länger als 40 Jahre.

Der Winter hatte den Jahresanfang in seiner eisigen Faust und gab nicht nach. In diesem Januar, als ich vom Stadtkern den Weg hoch zum Wald lief, um ihn zu besuchen, herrschte schon tagelang Frost, nachdem es lange kräftig geschneit hatte. Staunend nahm ich die dicke, glitzernde Schneeschicht wahr, die starr auf den Ästen lag. Wir schauten gemeinsam aus seinem großen Krankenhaus-fenster auf die Bäume mit der schweren Lage Schnee auf den schwarzen Ästen und dem weißbedeckten Wald dahinter. Es wirkte mal zart und poetisch, mal wie eine expressive Grafik.

Er liegt auf Zimmer 2 der Station 9 der Geriatrie, links die Tür am Ende des gelben Ganges. Sein Bett ist das am Fenster. Zuerst sehe ich den blau gemusterten Plastikvorhang davor. Sonst war der nicht zugezogen. Ich denke unwillkürlich, sie haben sich hoffentlich nicht gestritten.

Der Mann vorne sagt leise: „Es ist schon passiert, vor einer halben Stunde“.

Langsam mit angehaltenem Atem gehe ich durch das Zimmer und sehe schließlich sein erstarrtes Gesicht mit der aufgerissenen, schwarzen leeren Mundhöhle, den schon glanzlos gewordenen Haaren und der papiernen gelblichen, straff über die Gesichtsknochen gespannten Haut, den einge-fallenen Wangen. Die weiße Bettdecke wirkt fast eben, der Leichnam nahezu körperlos. Die Lider erscheinen durchsichtig. Da ist kein Atem mehr. Kein Hauch, kein Blut mehr, das den Körper  warm durchpulst wie seit vielen Jahrzehnten ohne Pause. Ich sehe nur noch eine unbehauste, verlassene Hülle.

Kein Schlag mehr, kein Heben, kein Senken, nicht mal mehr eine kalte Blässe und auch kein Geruch mehr. Die Zeit scheint angehalten, eine ungekannte Stille lastet im Raum.

Das Sterbezimmer ist unpersönlich und nüchtern, lichtlos grau obwohl es heller Tag ist. Ich verstehe es nicht, verstehe auch nicht, dass der arme Mann noch immer nebenan liegen muss, ich verstehe nicht, dass man meinem Vater den Mund nicht vorsichtig zugebunden hat. Ich verstehe nicht, warum er zwar  wiedererkennbar ist, jedoch verwüstet. Ich verstehe nicht, dass er erst vor einer halben Stunde gestorben ist. Ich verstehe nicht, wo seine Seele jetzt ist, ich spüre sie nicht, weder nah noch fern.

Sein Pullover, den er noch am Montagabend während des Abendessens getragen hatte, liegt über der Stuhllehne; ein schönes, seltenes Blau, ein fließender  Stoff, der mir durch die Finger gleitet. Ich stelle mir vor, wie sie die weiße Decke über sein Gesicht schlagen werden und das Bett durch diese ver-schrammten Gänge in den kalten Keller schieben.

Am Freitag wird er abgeholt und in einen einfachen Holzsarg ins Krematorium überführt. Ich hoffe, sie nehmen ihm den Ehering ab. Seine Asche kommt in eine Urne, unter den Stein des Familiengrabes auf dem Frankfurter Hauptfried-hof.

Kein Pochen, kein Schlaf, niemandes Gesicht, kein Fleisch, keine Pore mehr. Die Haut, das Fleisch wird immer kälter. Ich habe mich nicht getraut, ihn anzufassen oder noch mal seine Hand zu nehmen. So stelle ich mir vor, sie fühle sich ledern an.

Draußen scheinen für kurze Augenblicke Sonnenstrahlen durch den verhan-genen Himmel. Voller Unschuld, aber orientierungslos wirbeln ein paar fusselige Schneeflocken durch die Luft.

Kein Lid- und kein Wimpernschlag mehr.

Ein Frosthauch streift durch meine Adern.

2017

Tuula Gress

Sommertage in der Heimat

Die ganze Nacht hindurch höre ich Regentropfen auf das Dach des Blockhauses fallen. Am Morgen schimmern die Birken und Kiefern vor Feuchtigkeit und die Heidelbeersträucher am schmalen Pfad machen meine Beine nass, während ich zum Seeufer laufe. Ich friere, obwohl ich ein Handtuch über meinen Badeanzug gebunden habe. Auf dem Steg angekommen lasse ich den Blick nach rechts zum gegenüber liegenden Ufer streifen und betrachte einige Anlegebrücken, an denen kleine Boote schaukeln. Etwas weiter oben, kaum sichtbar hinter den Bäumen, stehen Sommerhäuser. Auf der linken Seite liegen bewaldete Inseln, dicht beieinander. Überall in der Ufernähe ragen, vom Schilf umgeben, graue und bräunliche Steine hervor. Ich werfe mein Handtuch auf die Bank am Stegende und steige ein paar Stufen auf der Leiter hinab. Ein leichtes Schaudern läuft durch meinen Körper, bevor ich ins Wasser springe. Nach einigen Zügen spüre ich einen Stein unter den Füßen und bleibe stehen. Das Wasser fühlt sich erfrischend an, und ich schwimme eine kurze Strecke vorwärts und wieder zurück, immer wieder. Im Schilf, neben Seerosenblättern, entdecke ich eine Ente mit ihrem Jungen, und eine kurze Zeit schwimmen wir Kopf an Kopf. Ich klettere auf den Steg und sehe ein Thermometer, das an einem Stück Schnur im Wasser schwimmt, und ziehe es hoch: 18 Grad. Es ist Ende August, die heißen Sommerwochen sind vorbei, und das Wasser in den finnischen Seen hat sich schnell abgekühlt. Auf dem Weg zurück zum Blockhaus kommt mir Joachim entgegen, eingemummt in ein Badetuch. “Warst du wirklich drin?“, fragt er mich. „Ich gehe doch immer morgens schwimmen, wenn ich am See bin“, gebe ich zurück. Dann bleibe ich auf der Terrasse stehen und beobachte, wie er zögernd auf der Anlegebrücke steht. Als Joachim es merkt, steigt er schnell die Leiter hinab und springt in den See.

Zum Frühstück gehen wir in das größere Sommerhaus. Es ist gelb angestrichen, die Fensterrahmen sind dunkelrot, und in dem steilen Dach befindet sich eine Gaube, die sehr einladend wirkt. Wir treten ein und setzen uns an den Tisch zu unseren Gastgebern Marja und Will. Genüsslich trinke ich heißen Kaffee und blicke dabei zwischen den Kiefernstämmen hindurch zum See. In der weißen Wolkendecke sind blaue Lücken entstanden. „Wollen wir zusammen einen Spaziergang machen?“, fragt meine Schwester. „Ich muss zum Suhola-Hof, um meine Schulden zu bezahlen.“ Wir decken den Tisch ab und laufen los. Der schmale Weg, in dessen Mitte Gras wächst, schlängelt sich durch den Wald, hier und da geht ein Weg nach rechts oder links ab zu anderen Sommerhäusern. Ich sehe hoch zu den Baumwipfeln, der Himmel hat sich aufgeklart und die Sonnenstrahlen färben die Luft golden. Am Hof angekommen geht Marja hinein, und ich setze mich draußen mit Joachim und Will auf eine Bank. Bald erscheint eine ältere Frau auf der Treppe und bittet uns hereinzukommen. Wir betreten eine geräumige Bauernstube. „Bitte, nehmt Platz am Tisch“, sagt Frau Suhola, schaltet die Kaffeemaschine ein, stellt Tassen auf den Tisch und schneidet Scheiben vom Hefezopf und dem Topfkuchen ab. Wir sprechen über das Wetter, das Sommerfest, das vor kurzem stattgefunden hatte, und über die Straßenbauarbeiten auf der Strecke zum Kirchdorf. „Ist es ein gutes Beerenjahr?“, frage ich die Bäuerin. „Es geht so, Heidelbeeren gab es mittelmäßig, aber so eine üppige Ernte von Himbeeren wie vor ein paar Jahren gab es seitdem nicht mehr“, antwortet Frau Suhola. „Damals hatte ich eine besonders gute Stelle auf einer Lichtung gefunden, wo sich die Himbeerzweige voller schöner großer Beeren bogen. Eifrig fing ich an zu pflücken, aber nach einer Weile hörte ich Geräusche in der Nähe und schaute hoch. In kurzer Entfernung vor mir stand ein Bär.“ „Und dann?“, rufe ich erschrocken und sehe sie an. „Dann bin ich langsam zurückgegangen, zuerst rückwärts, und der Bär ist geflüchtet. Erst, als ich durch den Wald an der Straße angekommen war, wo mein Fahrrad stand, habe ich gemerkt, dass ich meinen Eimer auf einem Stein vergessen hatte. Also bin ich zurückgegangen und habe gepflückt, bis das Gefäß voll war. Ich musste ja keine Angst haben, die Bären sind menschenscheu und werden nur aggressiv, wenn sie sich in Gefahr wähnen“, erzählt sie gelassen. „So eiserne Nerven hätte ich nicht gehabt, wenn ich in so eine Situation geraten wäre“, stelle ich fest. „Dem Bären bin ich allerdings noch eine ganze Weile im Traum begegnet“, fügt Frau Suhola hinzu. Nachdem ich die Geschichte für Will und Joachim bis zum Ende übersetzt habe, tun auch sie ihre Bewunderung kund. Auf dem Nachhauseweg ist mir sonderbar zumute. Früher, in meiner Kindheit, gab es Bären nur in Lappland und Nordkarelien, aber nicht hier im südlichen Teil des Landes.

Am späten Nachmittag beschließen wir eine Bootstour zu machen. Die Männer montieren einen Motor in das Ruderboot, alle ziehen sich eine Rettungsweste an und setzen sich auf die harten Holzbänke. „Kannst du den Motor bedienen?“, fragt Will Joachim. „Ich werde es versuchen“, antwortet dieser und rudert ein Stück vom Ufer weg, danach zieht er an der Anlasserschnur. Nichts passiert. „Zuerst ganz langsam ziehen und dann kräftig“, rät Will, und bald rattert das Boot los. Gut, dass wir die Ruder mithaben, für alle Fälle, denke ich. Wir fahren zwischen Inseln, und Will lotst uns an Steinen vorbei. Es gibt sie in allen Größen; einige ragen aus dem Wasser hervor, andere befinden sich dicht unter der Oberfläche, und man kann sie erst spät entdecken. Ich verlasse mich darauf, dass Will sich gut auskennt, auch ohne eine Karte. Aber von hier aus könnte man noch zu einer Insel oder zum Festland schwimmen, falls wir einen Stein rammen. Möwen kreisen in der Luft und setzen sich auf die Felsen und Steine. Aus einigen Saunas steigt Rauch empor und kringelt sich in der Luft, um später auf das Wasser zu sinken, in dem sich die Bäume spiegeln. Bald steuern wir auf den offenen See zu, und ich ziehe mir den Kragen hoch und halte mich fester an der Bank. Gut, dass der Wellengang niedrig ist. Links ist ein schmaler Sandstrand und ein ganzes Stück weiter vorn, wo der See endet, breiten sich graue Felsen aus. „Wie groß ist der See?“, frage ich und wende mich meiner Schwester zu. „Nicht sehr groß“, antwortet sie, „nur zehn Kilometer lang.“ Vor dem Felsenufer wenden wir und fahren in der Abendsonne heimwärts. Ich atme tief ein und versuche die vorbei gleitende Landschaft als Erinnerung zu speichern. Nach einiger Zeit kommt mir die Gegend bekannt vor, und in unserer Bucht angekommen, schaltet Joachim den Motor aus, lässt das Boot in Richtung Ufer gleiten, greift dann nach den Rudern und steuert langsam auf den Steg zu. Mit Mühe steige ich aus und räkele mich, bis die Gelenke wieder locker geworden sind.

Später holt Joachim Holz, das sich an der Werkstatt stapelt, und heizt die Sauna. Ich fülle den Wasserspeicher am Ofen. Das Gebäude ist klein, gerade für zwei Leute ausreichend. Bei 80 Grad gehen wir hinein. Nachdem ich richtig ins Schwitzen gekommen bin, laufe ich zum Steg. Auf dem Weg dorthin verschwindet die Wärme fast, aber ich fühle mich entspannt schon nach den ersten Schwimmzügen. Abwechselnd gehe ich in die Sauna und in den See, bis mich wohlige Müdigkeit überfällt. Die Sonne sinkt immer tiefer und verschwindet hinter dem Wald. Die Wasseroberfläche glitzert nicht mehr, und ich kann nur noch die Silhouetten der nahe liegenden Inseln erkennen. Es war so ein strahlender Tag, und ich erinnere mich daran, dass solche Tage am See für mich – schon als Kind – zu den glücklichsten Erlebnissen zählten.

Am nächsten Tag wollen wir zusammen das Grab der Eltern besuchen und fahren eine gute Stunde, bis wir an einer mittelalterlichen Kirche ankommen. Sie ist aus Natursteinen gebaut, genau wie der Glockenturm, der unweit davon steht. Vor dem Grabstein der Eltern ist ein kleines Feld für Blumen, sonst besteht das Umfeld aus grüner Wiese. Ich entferne das Unkraut und setze die herbstlichen Pflanzen ein, die wir unterwegs besorgt haben, und begieße sie reichlich. Auf den meisten anderen Gräbern blühen rote Petunien und Geranien, die von der Friedhofsgärtnerei eingepflanzt worden sind. „Ich will keine Einheitsblumen auf meinem Grab“, hatte Mutter gesagt. Sie hatte „Tränende Herzen“ aus ihrem Garten auf das Grab gesetzt, als Vater dort noch allein lag. Im ersten Sommer nach ihrem Tod hatte meine Schwester eine Tabakpflanze hingebracht. Ich muss lächeln, wenn ich daran denke. Mutter hatte als junge Frau mit dem Rauchen angefangen und es war ihr nie gelungen, damit aufzuhören. Am meisten ärgerte sie sich über die Geldverschwendung. Im Sommer konnte man oft „Rauchzeichen“ emporsteigen sehen. Mutter hatte sich auf eine niedrige Terrassenstufe gesetzt, um sich eine Zigarettenpause zu gönnen. Vom Zimmer aus war sie unsichtbar.

Wir möchten noch in die Kirche hineingehen, es klingt jedoch Musik heraus, und so bleiben wir vor der Tür stehen. Nach einer kurzen Zeit geht die Tür auf und ein Brautpaar erscheint auf der Treppe und wird von den Gästen umringt. Eine Weile sehen wir der Hochzeitsgesellschaft zu und betreten danach die Kirche. Vor dem Altar liegt ein aus Wolle geknüpfter Teppich in sanften Grautönen. „Wie alt ist dieser Hochzeitsteppich?“, frage ich eine Frau, die beim Aufräumen ist. „Er stammt aus den dreißiger Jahren, und seitdem sind alle Hochzeitspaare darauf getraut worden“, antwortet sie. „Dann standen auch wir darauf vor fast 40 Jahren, es war der letzte Samstag im August, genau wie jetzt“, erzähle ich und sehe die Frau an. „Ah ja“, sagt sie und arbeitet weiter. „Der Pfarrer hat gut Deutsch gesprochen“, sagt Joachim und wendet sich Marja und Will zu, „er hat uns vor der Trauung in der Sakristei Witze erzählt, um uns aufzulockern. Ich denke daran, wie Mutter am Morgen des Hochzeitstags aus dem Fenster geschaut und gesagt hat: „Sonne und Wolken, so wie im Leben.“

Von der Kirche aus fahren wir einige Kilometer zu dem Ort, in dem unsere Eltern lebten. Langsam passieren wir das Haus, das früher ihnen gehörte. Hinter der hohen Hecke ist der gelbe Bungalow kaum zu sehen. Wir fahren weiter und sehen uns das Gebäude von der anderen Seite an. Der Garten grenzt an ein Birkenwäldchen, und so hat das Haus die schönste Lage in der Siedlung. Mein Vater hatte sich zusammen mit anderen dafür eingesetzt, dass die Gemeinde das Birkenwäldchen nicht zu einem Park umwandelte. Wir kommen noch mal zu der Vorderseite des Hauses und bleiben stehen. Ich gehe vor und klingele an der Tür. Frau Numminen öffnet, erkennt uns und bittet uns herein. Nur mühsam geht sie ins Wohnzimmer und bietet uns ein Glas Wasser an. Sie erzählt, dass der Sohn heute da gewesen sei und den Rasen gemäht hat, da ihr Mann schon länger krank ist. Dann führt sie uns durch das Haus, und ich sehe, dass hier nicht tapeziert worden ist, seit mein Vater es gemacht hatte. Am Saunafenster hängt sogar noch unsere alte Gardine. Alles wirkt verbraucht, und mir ist nicht wohl zumute. Als wir zuletzt hier waren, vor vielen Jahren, war es noch sehr gepflegt, auch der Garten. Marja und ich hatten uns darüber gefreut, dass das Haus in guten Händen war. Beim Weggehen betrachte ich die Außenwand; ein neuer Anstrich wäre längst notwendig gewesen. Von der Straße aus fällt das nicht auf, da die Hecke sehr hoch ragt. Die jetzigen Hausbesitzer können nicht mehr selbst renovieren, und Handwerker sind teuer, schließe ich daraus für mich. Ich denke daran, dass es der Herzenswunsch unserer Mutter war, das Haus in der Familie zu behalten. In ihren letzten Lebensjahren hatte sie jedoch oft resigniert gesagt, dass es in fremde Hände käme. Dabei hatte ich immer ein schlechtes Gewissen gehabt.

Bald verabschieden wir uns, um zurück zu fahren, und wählen eine andere Route als in der Frühe, ohne Schnellstraße. Wir passieren kleine Dörfer mit Holzhäusern, fahren an Getreidefeldern, Wiesen und Wäldern vorbei, und gelegentlich kommt auch ein See in Sicht. Ich genieße die ruhige Landschaft. An dieser Straße hat sich kaum etwas geändert. Als wir unser Domizil erreichen, ist die Sonne noch sichtbar, und ich beschließe einen Spaziergang zu machen. Zuerst laufe ich ein Stück zurück auf dem schmalen Weg und biege dann ab auf einen Pfad, der sich hoch auf einen Hügel schlängelt. Auf dem moosbedeckten Boden wachsen Preiselbeeren, die noch eine blasse rötliche Farbe haben. Junge Birken und Fichten finden sich zwischen hohen Kiefern, und hier und dort steht ein Wacholderbusch. Oben auf dem Hügel angekommen steige ich auf einen großen Stein, setze mich hin und gehe in Gedanken die Geschehnisse des Tages durch. Dazu gesellen sich Erinnerungen an früher, und viele Bilder kommen. Ich stehe erst auf, als es dämmerig geworden ist, und laufe langsam den Pfad herunter. Dabei kommt mir ein Gedicht in den Sinn:

„Heute fanden meine Schritte mein vergessnes Jugendtal,
seine Sohle lag verödet, seine Berge standen kahl.
Meine Bäume, meine Träume, meine buchendunkeln Höhn –
ewig jung ist nur die Sonne, sie allein ist ewig schön.“ *

* Aus “EWIG JUNG IST NUR DIE SONNE“, von Conrad Ferdinand Meyer

Tuula Greß, Januar 2012

Reha Horn

Tanz der Schmetterlinge

Und so war es, dass Frau Rumpel ihren geliebten Garten abgeben musste.
Lange Zeit ihres Lebens war er ihr Ein und Alles gewesen, doch nun war der Augenblick gekommen, loszulassen. Loszulassen, um den womöglich letzten großen Schritt in ihrem alten Leben zu tun.
Doch was sollte aus den Vögeln werden? Wer würde sie füttern?
Wer ihnen ein Lied vorspielen?
Das Radio, das immer lief, wenn Frau Rumpel im Garten war, bleibt weg.

Die jungen Leute, die den Garten übernehmen, waren sicherlich nicht interessiert an ihren Vögeln und an den anderen treuen Besuchern ihres Kleingartens:
Zahlreiche Eichhörnchen, Kaninchen, auf die der Kleingartenverein alle Jahre wieder Jagd machte, weil sie den fleißigen Gärtnern die so mühsam hochgezogenen Salate und anderes Gemüse wegfraßen.
Frau Rumpel machte sich daraus nichts.
Im Gegenteil, sie freute sich, wenn sie die kleinen, flinken Gäste bewirten konnte. Schließlich konnte sie einfach in den nächsten Supermarkt gehen und sich Obst, Karotten oder wonach ihr auch immer war, einkaufen. Die felligen und gefiederten Freunde konnten das schließlich nicht.
Diese Tatsache den anderen Kleingärtnern näherzubringen, hatte sie mehrere Male versucht.
Die waren jedoch so sehr verärgert über die niedlichen Diebe und sahen vor lauter akkurat geschnittenen Rasenkanten, Unkrautvernichtungsmitteln und Grünschnitt das Leben nicht mehr.

Wie sehr Frau Rumpel es liebte, wenn der Frühling da war und nicht nur Blumen und Pflanzen aus dem Winterschlaf erwachten. Die Gärten wollten wieder mit der Frühlingssonne und den anderen Kleingärten um die Wette strahlen.
Auch die Kleinkriminalität in den Parzellen wucherte wie das stets treu wiederkehrende Unkraut in allen Beeten, Ecken und auf allen Wegen:
Dunkle Gestalten huschten mit Schubkarren voller Grünschnittabfällen während der Dämmerung in den benachbarten Wald oder in den nahegelegenen Grüngürtel.
Dort wurden dann die lästigen Naturreste in die Büsche oder einfach mitten in den Wald geworfen. Nicht versteckt, nein, so, dass es offensichtlich war, dass hier einer seinen Grünschnitt loswerden wollte und musste.
Die im Kleingarten geltenden Gesetze galten hier nicht. So durfte nur kleingeschnittenes Geäst oder sonstiges Grün auf dem Kompost innerhalb der Kleingartenanlage landen, zwecks besserer Zersetzung. Und gerne schielte man mit besorgter Miene auf den Komposthaufen der Nachbarn, um bei passender Gelegenheit die Länge der Schnitte mit anderen Nachbarn zu besprechen.
?
Frau Rumpel machte sich immer einen Spaß daraus und blieb extra lange in ihrem Gärtchen an besagten Abenden, obwohl es recht frisch war, um das heimliche Treiben zu beobachten. Sie machte sich dann eine große Thermoskanne ihres Lieblingskaffees und setzte sich, wie sie annahm, recht unauffällig unter ihre Pergola.
Es war herrlich, mitanzusehen, wer alles bei diesem verbotenen Schauspiel mitmachte. Sogar Herr und Frau Fink, die den akkuratesten und gepflegtesten Garten weit und breit hatten, waren schwer zugange. Denn Grünschnitt gab es reichlich aber der musste auch entsorgt werden.
Am Nachmittag dieser Abende nahmen sie ein bis zwei Tütchen Bioabfall, mit dem sie demonstrativ durch die halbe Anlage liefen. Sie riefen jedem freundlich „Einen schönen Abend noch!“ und stiegen dann in ihr Auto und fuhren weg, um drei Stunden später, wenn es schon fast dunkel war, zurückzukehren.
So viele Jahre nun hatte Frau Rumpel dieses Schauspiel genüsslich beobachtet, doch jetzt war es vorbei. Nie wieder würde sie sich über das Doppelleben ihrer Kleingartenkollegen amüsieren.

Weder am Inventar, das sie über die ganzen Jahre, nein Jahrzehnte, mit viel Sorgfalt und Geschick ausgewählt und zusammengestellt hatte, noch an ihrem Radio hatten die Nachpächter Interesse gezeigt. Sie musste einiges entsorgen lassen, doch das Radio, sowie zwei ihrer Weinkelche wollte sie mitnehmen. Ihr Schwiegersohn hatte ihr zwar versprochen, ihr ein neues Radio zu kaufen, wenn sie das „alte Ding“, wie er es scherzhaft nannte, wegwerfen würde. Doch das brachte sie nicht übers Herz.
Nicht, nachdem es ihr stets treue Dienste erwiesen hatte. So viele Jahre hatte es sie sowohl in freudigen, lustigen, wie auch düsteren und einsamen Momenten begleitet.
Es war schon fast wie ein treuer Freund und stand ihr manches Mal näher als ihre eigenen Kinder. Wenn sie sich auf eines verlassen konnte, dann war es ihr Radio.
Nie vergaß sie, dass es ihr einmal vermutlich sogar das Leben gerettet hatte:
In jener Nacht war sie in ihrer Laube eingeschlafen. Erschöpft von der ganzen Gartenarbeit, hatte sie sich in ihr geblümtes Sofa fallen lassen und sich ein Glas ihres Lieblingsgetränkes zum Abschluss dieses heißen Sommertages gegönnt.
Sie liebte es, den Holundersirup mit kaltem Mineralwasser und einem Spritzer frisch geschnittener Zitrone aus dem Garten aufzufüllen.
Den Holundersirup hatte sie in Gemeinschaftsarbeit mit ihrer Freundin Lily zubereitet.
Denn der Holunder stand in ihrem Garten.
Es waren die wunderbaren Blüten des „verbotenen Baumes“, wie der Baum von den Kleingärtnern genannt wurde. Verboten, weil der neue Vorstand beschlossen hatte und es somit die Kleingartenverordnung besagte, dass Holunderbäume in der Kleingartenanlage nicht erlaubt und somit zu entfernen seien. Egal wie alt und groß diese schon waren und wie viele wunderbare Säfte sie beschert hatten.
Doch zum Glück hatte sich noch keiner an den Baum gewagt, der Frau Rumpels Vögeln im Winter Nahrung bot.

Nachdem sie sich den Rest aus ihrem Glaskelch in ihren Mund hatte tropfen lassen, hatte sie das Glas auf das Beistelltischchen gestellt und war sofort in einen tiefen Schlaf gefallen. Das Radio, ihr treuer Begleiter, sang sie dabei einen chaotischen Traum.
In ihrem Traum kämpfte sie gegen riesige Spinnennetze, die sich um ihre geliebten Hortensienblüten gewickelt hatten, bis sie kaum noch ein Blatt sehen konnte.
Sie entfernte einen Faden, doch er löste sich auf und es bildete sich sofort ein neuer. Sie träumte oft vom Garten, wenn sie wieder einmal besonders lange in der Sonne gearbeitet und die Hitze ignoriert hatte.
Plötzlich schrak sie aus ihrem unruhigen Schlaf auf, denn ein lauter Knall draußen hatte sie unsanft zurück in ihre Gartenlaube geholt. Sie sprang auf und lief zum Fenster. Sie hörte Stimmen und eilige Schritte entfernten sich über dem Kiesweg. Jemand war in ihre Parzelle eingedrungen und hatte es sich dann wohl doch anders überlegt. Ihr Herz klopfte laut bis zum Hals.
Ihr Traum hatte sie schon mitgenommen, doch diese Geräusche hatten sie direkt in einen Albtraum befördert. Als sie sich wieder auf ihr Sofa gesetzt hatte, merkte sie, dass ihr Radio noch laut lief. Sie beruhigte sich langsam und atmete bewusst tief ein und aus und versuchte, sich auf die Töne aus dem Radio zu konzentrieren.
Mittlerweile spielte keine Musik, sondern es lief ein Krimi-Hörspiel. Laute Männer-stimmen, die miteinander stritten. Womöglich hatte das die Einbrecher verjagt, vermutete sie.
Am nächsten Tag hatte sie erfahren, dass es mehrere Einbrüche in den Gartenlauben gegeben hatte.
Als sie ihren Kindern von dem Vorfall erzählt hatte, hatten diese nur mit ihr geschimpft, wieso sie sich so viel alleine im Garten aufhielte.

Nun war es auch damit vorbei, und Frau Rumpel bezog womöglich mit dem Einzug in das Seniorenheim, das sie sich nach langem Überlegen und auf Drängen ihrer Kinder ausgesucht hatte, ihre letzte Wohnstätte. Der Auszug aus ihrer Wohnung hatte sie nicht so sehr geschmerzt, wie das Abgeben ihres geliebten Gartens. Es hatte sie innerlich zerrissen. Sie fühlte sich, als würde sie einen Teil von sich für immer dort lassen müssen, und die Ungewissheit, wie die Nachpächter damit umgingen, machte sie noch unruhiger.
Doch eine andere Ungewissheit nagte auch an ihr: Was erwartete sie in dem Seniorenheim?

Sie hatte darauf bestanden, ohne Begleitung ihrer Kinder den Weg in ihre wohl letzte Bleibe zu machen. Als sie aus dem Taxi stieg, hatte sie nur eine Tasche und ihr Radio in der Hand. Der Rest ihrer Sachen würde mit einem Transporter gebracht werden. Sie lief den grau asphaltierten Weg hoch bis zu einem Schild, das auf den Eingang des Hauses wies.
Es war ein großes, hellblaues und rundlich gebautes Gebäude. Es sah nicht so unfreundlich aus, wie Frau Rumpel es in Erinnerung hatte. Sie ging zum Eingang, den gläserne automatische Schiebetüren bildeten. Ihr stockte nun fast der Atem und sie spürte ihren Puls rasen. Sie hatte Angst ohnmächtig zu werden, obwohl ihr das noch nie passiert war. Da kam ihr eine freundlich grüßende junge Frau entgegen: „Guten Tag! Kann ich Ihnen helfen?“ Frau Rumpel wusste nicht, was sie antworten sollte und blickte nervös um sich. Vermutlich wirkte sie furchtbar verwirrt. Sie atmete tief ein, hielt die Luft an, zählte bis sieben und stieß die Luft langsam wieder aus. Dann sagte sie: „Guten Tag, mein Name ist Rumpel und ich habe hier ein Zimmer gebucht.“ Die Frau lachte und fragte, ob sie ihr beim Tragen helfen sollte. Frau Rumpel lehnte dankend ab und versteckte ihr Radio hinter ihrem Bein.
„Kommen Sie mit. Ich werde nachschauen, wo wir hinmüssen.“ Hatte sie wirklich „wir“ gesagt, fragte sich Frau Rumpel. Sie ärgerte sich und fühlte sich bevormundet.
„Nehmen Sie doch bitte im Foyer Platz und ich bringe Sie gleich weiter!“ sagte die junge Frau.
Frau Rumpel nickte stumm und setzte sich auf einen Sessel in der Nähe des Empfangs. Sie schaute sich um und sah einige Menschen, die in ihrem Alter oder älter waren. Einige wirkten ganz munter und fit und andere gingen an Gehstöcken, an Rollatoren oder im Rollstuhl.
Das war nun ihr Zuhause und das waren ihre Nachbarn. Keine Eichhörnchen, Schmetterlinge, Kaninchen und Vögel mehr.
Die Angst ergriff sie wieder und dieses Mal mischte sich etwas Verzweiflung in das mächtige Gefühl. Sie stand ruckartig auf und da kam ihr auch schon die Frau, die sie empfangen hatte, entgegen. „Frau Rumpel, wir können hochgehen. Ihre Wohnung befindet sich im 2. Stock.“
Sie lächelte Frau Rumpel aufmunternd zu und lief in Richtung eines Aufzuges.
Frau Rumpel trottete ihr hinterher, ohne nach rechts und links zu blicken. Sie wollte am liebsten niemanden mehr sehen und schon gar nicht ihre neuen Mitbewohner.
Sie umklammerte ihre Tasche und ihr Radio so fest, dass Ihre Finger bereits schmerzten.
Im Aufzug angelangt fühlte sie sich völlig erschöpft und ihre Beine waren schwer wie Blei. „Geht es Ihnen gut?“, fragte die junge Frau und legte ihr eine Hand sanft auf den Oberarm. Frau Rumpel zuckte zurück, und schüttelte ihren Kopf und antwortete barsch: „Ja, es geht mir sehr gut!“
Endlich waren sie auf der zweiten Etage angekommen und der Aufzug hielt.
Erst stieg die Frau aus und dann Frau Rumpel.
Sie folgte ihr einen langen Flur entlang. Überall waren Sitzgelegenheiten und hier und da standen paar Blümchen auf den Beistelltischchen und auf den Fensterbänken im Gang. Wenigstens war es hell, und offensichtlich gab man sich hier Mühe, dass es nicht ganz leblos wirkte.
Die junge Frau blieb an einer Tür stehen und zeigte auf das Schild nebendran. Es war ein gelber flatternder Schmetterling aufgedruckt. „Das ist die Schmetterlings-wohnung“, sagte sie freundlich lächelnd. Frau Rumpel starrte auf das Schild und wusste nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Sie beschloss einfach nichts zu denken und schwieg.
Die Frau schloss die Türe auf und öffnete sie nach innen. „Hier ist es. Herzlich willkommen! Das ist Ihr Reich.“
Frau Rumpel blickte in einen kleinen Vorraum, und sie traten beide ein.
„Möchten Sie allein sein oder soll ich Ihnen kurz alles zeigen?“ fragte die Frau.
„Nein, bitte lassen Sie mich alleine“, antwortete Frau Rumpel.
Die junge Frau nickte und sagte noch: „Um 15.30h gibt es Kaffee und Kuchen unten im blauen Saal. Fragen Sie einfach danach.“
„Ist gut“, erwiderte Frau Rumpel und drehte sich einfach weg. Sie wollte nur allein sein.
Sie ging paar Schritte weiter in den Raum hinein und stellte ihre Tasche und ihr Radio auf dem Boden ab. Das Zimmer war hell und sauber und nicht so klein, wie sie es sich vorgestellt hatte. Bei der Besichtigung damals hatte man ihr ein anderes Zimmer gezeigt.
Doch was war das? Eine Balkontür in ihrem Zimmer. Sie lief zu ihr hin und sah, dass ein mittelgroßer Balkon sich ihr anschloss. Frau Rumpel war plötzlich ganz aufgeregt und trat auf den Balkon hinaus. Sie sog gierig die frische Luft ein und blickte hinaus. Hier kann ich es mir doch auch ganz gemütlich machen, dachte sie sich. Sie ging hinein, holte einen Stuhl, ging wieder rein, holte ihr Radio und setzte sich schließlich mit ihrem Radio im Schoß auf den Stuhl.
Sie schaltete ihr Radio an und schon hörte sie ihren Lieblingssender und es trällerte: „Immer wieder kommt ein neuer Frühling…“ Auf ihr Radio war eben Verlass.

Zum ersten Mal an diesem Tag entspannte sie sich etwas und lächelte leise vor sich hin. Da setzte sich ein kleiner Spatz auf ihr Balkongeländer und blickte sie neugierig an. Frau Rumpel begrüßte ihren Besucher: „Na, mein Kleines. Hast Du Hunger?“

Barbara Höhfeld

Feuerwerk

Feuerwerk findet
im Dunkel statt. Tagsüber
legt man die Schnüre,
richtet die Ständer,
verschüttet sein Pulver nicht.
Während die Nacht den Himmel
erwandert, wartet
der Feuerwerker, unsichtbar,
bis die magische Stunde beginnt.
Dann erst zündet er
Das Feuer zur Feier, zum Fest.

Barbara Höhfeld
(Aus dem Gedichtband „Aus Bildern zusammensetzen“, Frankfurt, 2009)

Venera Tirreno

Am Ufer des Mains

Am Wasser weilen
und verblasste Erinnerungen
mit den Wellen reiten lassen.

Mit geschlossenen Augenlidern
von den Wogen getrieben werden
und weitere Flüsse erreichen.

Bis eine neue Landschaft mir erscheint
und ich mit geöffneten Augen
den neuen Ort bestaune.

Ich tauche in die Welle ein
und träume von anderen Gewässern
im Rauschen des Wassers.

In meinen Erinnerungen versinke ich
in einer vergangenen Welt erwache ich,
sitzend, an einem Strand, lang und verlassen

Das alte Fischerhaus erkenne ich wieder,
aber der Fischer und seine Familie –
sie sind nicht mehr da.

Sind auch sie fort zum fremden Ufern?
In einer neuen Heimat?
In einem neuen Zuhause?

Ich raste am Rande eines neuen Ufers
um die Stille des Ortes auszukosten,
nach neuen Erinnerungen zu stöbern.

Ich bewundere die Strömung des Wassers
mit seinen silbernen
gekräuselten Wellenkämmen.

Seiner Stimme lausche ich,
bis meine Gedanken, von der Flut verschlungen,
mit in die Tiefe gerissen werden.

Wie ein Papierschiff lasse ich mich
von den Wogen schaukeln, bis weitere
Erinnerungen wie die Wellen am Ufer zerbrechen.

Hohe weiße Berge blenden meine Augen.
Mein Körper zittert vor Kälte.
Ich treibe im fremden Gewässer.

Das Gletscherwasser hat die Bäche
in Flüsse verwandelt. Mein Körper
wird von rauschenden Fluten getrieben.

Diese Landschaft ist mir nicht fremd!
mit träumenden Augen
bewundert hatte ich sie einst.

Als ich damals das Land bereiste,
bevor ich meine neue Heimat fand am Main.
Meine allererste, unvergessliche Reise.

Meine Glieder werden starr in den eisigen
Gewässern. Heimweh erwacht in mir.
Fort von hier, zurück in die Wärme.

Aber das Mittelmeer ist unerreichbar.
Meine Phantasie gleitet im Rhythmus
der Wellen und erreicht ihr Ziel.

Sie treibt mich an den Main zurück, dort,
wo meine Traumreise begann. Geborgen,
weile ich weiterhin am Ufer des Mains.

Venera Tirreno
(Frankfurt am Main, den 27.4.16 /24.8.2015/13.10.15)

Ayla Bonacker

Die Flucht 

Ich bin’s
Die Frau
Die ungewollt allein gebliebene.
Bin vergessen worden
Von einem mit Beton gefüllten Menschen
In einer fremden Kälte
Im eisigen Wind.

Mein Blick richtet sich gen Himmel
Lange, rundherum
Dann zurück auf meine
Zerquetschten Finger
Ich schreie stumm.
Er schlägt mich noch fester
Die Kinder fangen an zu heulen
Mein Herz, heftig es pocht.
Immer wieder zieht er mich an den Haaren
Die Fäuste knallen mir auf die Ohren
Drauf, auch auf meine Nase
Das Blut sickert bis zum Boden.
Er schlägt zu
Schlägt so lange zu
Bis meine Augen
Ihren Glanz verlieren und
Versteinern.
Ich habe keine Ahnung
Warum er so was tut?
Ich bin wie ein Häschen
Das ins Licht starrt.

Er befiehlt ständig
Hey! Mach Essen
Geh Brennholz sammeln
Frau!
Du muss Getreide stampfen
Frau!
Koch Tee
Frau!
Wasser holen
Sofort!

Eigentlich
Am Anfang
Meines Lebens lief alles gut
Mein Mann und ich
Wir haben uns
Während der Flucht
In ein anderes Land kennengelernt.
Mein Hochzeitstag war märchenhaft
Wir hatten Frühling
Zu meinem großen Erstaunen
Sah ich eine Magnolienflut
Auf den Bäumen sogar
Einen puderrosa Farbton.
Wie von Zauberhand
Verwandelte sich die Natur
Über Nacht
In einen Garten Eden.
Mein Herz brannte
Vor Freude und Begierde.

Dann endlich näherten sich
Vom Berg hinunter ins Tal, umkreist vom Hochgebirge
Die Hochzeitstrommeln
Mit lautem Echo.
Der Klang war so imposant
Es bewegten sich Himmel und Erde.
Der Trommelklang
Vermischte sich mit Kindergelächter
In Rhythmischer Untermalung
In einem Kreis
Tanzender Männer und Frauen
Die schnell und hastig
Hin und her schwankend
Mit den Füßen kräftig aufstampften.
Der Trommelklang
Vermischte sich weiter
In das als Hochzeitsgeschenk
Mitgebrachte Meckern der Ziegen
Riesige Staubwolken überall.
Die Berge glühten
Bei sinkender Sonne.
Ich zog meine Hochzeitstracht
Mit Hilfe der Junggesellenfreundin
Mit bunten Bändern und Kordeln an.
Sie schminkten mich
Zuletzt
Trug ich einen langen seidenen Schleier.
Meine Mutter umarmte mich fest
Drückte ein Amulett weinend
In meine mit Henna bemalten Hände
Es war so ergreifend.
Ich sah die Frau im Spiegel
Während die Spatzen  zwitscherten
Die Frau im Spiegel war sehr schön
Stolz mit langem seidenem Schleier
Sie kicherte weinend.
Im Verlauf
Meiner Hochzeit wurde Nachts weiter gefeiert
Bei Vollmond unter dem
Wie mit Samtblumen bestickten Himmel.
Mit meinem Mann saß ich Seite an Seite
Er hielt flüchtig meine Hände
Ich zog sie nicht zurück.
Rasch hatte er meine Wangen geküsst
Dabei versucht
Nah an meine Lippen zu kommen
Ich errötete
Blickte zu Boden.
Mir wurde warm ums Herz
Ich spürte seine Anspannung
Er glich  einem gespannten Bogen.
Der Musiker sang
Über die Liebe
Er sang über die Nomaden
Der Musiker sang über die Natur
Er sang auch über das Exil.
Köstliches Fleischaroma schwebte in der Luft
Gegrillte Lammspieße würden verzehrt werden
Es roch atemberaubend lecker
Aber die Spieße drehten
Immer noch über der Glut.
Es roch nach Holzbrand
Es roch nach gebackenem Fladenbrot.
Die Kinder bekamen Süßigkeiten
Tobten rum wie Wilde
Alle Gäste drängten sich
Hungrig kniend auf dem Boden.

Ich muss weg
Nehme meine Jungen mit
Umdrehen werde ich mich nie
Egal ob ich in den Tod mich treibe
So beginnt unsere Flucht.
Es beherrscht mich
Eine riesige Wut.
Als wir morgens
Aus der Hütte treten,
werden wir vom Schnee erfasst.
Mit der weißen Pracht
Hatte sich die Welt
Beunruhigenderweise verändert.
Meine Jungen halten sich fest
Weinend
An meinem mit Blümchen
Gemusterten Rockzipfel.
Wir laufen mit gebeugten Köpfen
Durch die heftigen Schneefälle
In Richtung der
Höhnisch schauenden Berggipfel.
Oft springen wir
Über Maschendrahtzaun
In großer Eile.
Wir fliehen und
Er verfolgt uns.
Er verfolgt uns, fluchend
Durch enge Schluchten
Bleib hier, Frau!
Komm zurück!
Komm zurück!
Wieder immer wieder.
Ich höre das Echo wie ein
Laut schmetterndes Heulen
Einer Frau, bei der
Ein Dämon ausgetrieben wird.
Die Frau bin ich
Ich heule stumm.
Die Jungen jammern
In Dunkelheit bei
Klirrender Kälte
Sie haben  Hunger.
Das letzte Stück Aschebrot verteile ich
Wir fliehen weiter.
Vorbei an Friedhöfen
Neben skurrilen Gestalten
Die in dem Schneeschleier
Langsam unsichtbar werden.
Wir laufen auf dem vereisten Weg
Durch das Grollen vom eisigen Wind
In großer Eile.
Dazu
Verfolgt uns das Wolfsgeheul.
Ich verliere das Gleichgewicht.
Ich zapple.
Wir schaffen es nicht mehr
Bis zu den  Berggipfel.
Meine Jungen halten sich nicht mehr fest
An meinem mit Blümchen
Gemusterten Rockzipfel.
Sie liegen mit gebeugten Köpfen
Wie zwei Schneeglöckchen
Auf dem Schnee.

Der Schnee beginnt sich
Um uns aufzutürmen.
Die Kälte zieht
In mich herein.
Der Schnee
Schnürt mir die
Luft ab
Am liebsten hätte ich mich umgedreht
Und weitergeschlummert.
Ich höre Atemgeräusche
Ich höre Fußstapfen
Über knarrendem Schnee.
Unter der Eisschicht
Ich strecke die Hände
Gegen das schwache Licht.
„Hier!“ schreit eine Frau.
„Sie leben noch!“ ruft die andere.

Pupuze Berber (P. B. Fuchs)

Mein, Dein, Tod

„Wer vorgibt, den Tod nicht zu fürchten, lügt!“, sagt Rousseau. Sie hätten keine Angst, sagen mir Freunde, die ich befrage. Lügen sie mich an? „ … Alle sprechen sie, als hätten sie noch Zeit, selbst wenn sie wissen, sie könnten bereits jetzt und jetzt keine mehr haben … “ (Hendrik Jackson, Panikraum)

„Warum sollte man vor etwas Angst haben, was unumgänglich ist?“ oder „vorher war man schließlich ein Nichts, und danach ist man das eben auch: ein Nichts.“ Gängige Antworten, wenn ich weiter insistiere. Nihilismus. Nichts als „kalte Masse“ im Universum. Alles „entzaubert“; es gibt fast nichts mehr, was nicht erklärt werden kann. Bis auf den Tod, den eigenen Tod, den Tod des vernünftigen und wissenden Menschen, und das, was danach kommt (oder nicht kommt).

Ich bin rückständig. Ich glaube zwar an die Wissenschaft, habe aber trotzdem Angst vor dem Tod. Vielleicht glaube ich nicht stark genug, vielleicht zweifle ich daran. Kommt daher die Angst? Jedenfalls schäme mich wenn ich meine Angst entblöße. Ich. Die Angst vor dem Tod, die Angst vor meiner Sterblichkeit ist mir unangenehm und auch peinlich. Warum dieser Scham? Hat mein Glaube, die Religion der Vernunft, die alles erklärende Allmacht, hier ihr Leck und ist mir das bewusst? Empfinde ich Scham, weil ich das Wissen darüber verdecken möchte, um so meine Religion zu verteidigen, wie der oft belächelte Fanatiker die seine?

Der Tod aber ist da, Er kommt früher oder später. Er ist also kein Nichts; wir werden sterben. Ich kann den Tod nicht ganz ausblenden. Die Angst ist seit dem ersten Bewusstwerden der Sterblichkeit kein bisschen weniger geworden. Nicht milder, nicht süßlicher, nicht verständnisvoller. Sie ist da, scharf, brennend, aussichtslos, verzweifelnd: „Was wuchtet so röhrig hinten raus, was rast du Maulwurf wieder durch mich durch? Aber wenn ich mich in diesem Moment aus der Konditionierung löse, wem kann ich dann trauen? Dem Körper, dem Hirn, meinem Einfall, meiner Furcht nicht.“ (Hendrik Jackson, Panikraum) Es lügen eben nicht alle.

Über den eigenen Tod zu schreiben ist unmöglich. Ich werde meinen irgendwann erleben, doch nichts von diesem Erlebnis schreiben können. Und wie kann ich im Leben über ihn reflektieren, ihm versuchen näher zu kommen, obwohl er in mir ist, mit mir wächst? Ich sollte an den Anfang gehen, an den Zeitpunkt, als er mir zum ersten Mal bewusst wurde. Und da anfangen, irgendwo in meiner Kindheit, aber wann genau war das? Wann war dieser Moment als meine Unsterblichkeit zerstört wurde, sich aufgelöst hatte in diese scharf-schneidende Erkenntnis der Endlichkeit?

In meiner Kindheit war ich unsterblich. Die Kindheit hatte die Unsterblichkeit, wo ich wie ein Gott im Olymp lebte. Der Tod war wie bei Tom und Jerry, die, wenn sie auch von einer Walze überrollt wurden, wieder aufstanden und weiterliefen. Er war ein Spiel, der nie ernst machte, der nie Angst machte, denn er galt nicht für mich.

Es war nicht so, dass in meiner Umgebung nie Menschen starben; ganz im Gegenteil. In dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, starben dauernd Leute. An einen Sterbenden kann ich mich sogar sehr gut erinnern. Totenwache am Bett. Groß und Klein waren Verwandte da und wechselten sich beim ihm ab. Der alte Mann atmete schwer. Sein Gesicht war gelb mit eingefallenen Wangen. Ab und an bekam er von einer Frau löffelweise Wasser in seinen Mund gegossen. Sein Sohn, ein Geistlicher mit langem Bart, hatte errötete Augen. Er hielt mich umarmt, fest an sich gedrückt und pendelte mit dem Oberkörper hin und her. Ich verstand diese Geste nicht zu deuten und war froh, als er mich losließ und ich wieder mit den anderen Kindern spielen konnte. Doch heute weiß ich, dass er damals in seine eigene Sterblichkeit geblickt hatte, und mich, das Kind, an sich drückte, um etwas von meiner Unsterblichkeit zu bekommen.

Und dann, eines Nachts, ich weiß nicht mehr wann, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich ein Mensch war wie die anderen auch, dass ich nicht in der Zeichentrickwelt lebte, sondern in einer, worin alle Lebewesen einmal sterben werden. Von diesem Augenblick an habe ich die Todesangst im Nacken; mit kaltem Schweiß, mit unruhigem Atem, mit Herzrasen. Ausweg unmöglich. Und meistens kommt sie nachts, in dem Moment, kurz vor dem Einschlafen, wenn die Aufmerksamkeit sich zurückzieht, der Verstand sich herunterfährt wie bei einem Rechner. In diesem Übergang vom Wach- zum Schlafzustand blitzt der Gedanke auf, dass irgendwann der Tod – dieser große Bruder vom Schlaf – unausweichlich kommen wird. Er wird sich dann für immer auf mein Leben legen.

Nur wie wird er sein, der große Tod? „Plötzlich realisierte ich, dass ich gefangen war. Eine kalte, klare Intelligenz sagte mir ohne Worte, so etwas wie ‚Jetzt ist es zu spät, Du bist für immer gefangen, in einem ewigen Kreislauf, ein Kurzschluss im Gehirn‘.“ So beschrieb mir Raoul, ein Unbekannter, der sich so nennt, seine Todeserfahrung unter Drogen. Er schrieb weiter: „Ich war nicht mehr ich, ich wusste nicht wer ich bin und dass ich lebte, ich WAR, sonst nichts. Gefangen für alle Zeiten in einem kalten Raum. Wie eine Ratte im Versuchslabor. Mir war bewusst, dass das der TOD ist, dass wir alle, wenn wir sterben, dorthin kommen und nichts dagegen tun können, weil es die letztendliche Wahrheit hinter allen Dingen ist. No Escape. Ich geriet in Panik, ich war verzweifelt, wie noch nie in meinem Leben, ich WAR Verzweiflung, ich WAR Panik. Der psychedelische Raum war weiß, und irgendeine Bewegung. Für mich war die Ewigkeit eine Endlosschleife.“ Die Hölle bei Dante ist nicht das Quälen, sondern deren ständige Wiederholung, dachte ich, als ich die lange Mail von Raoul las.

Auf der anderen Seite beschreibt Borges die Unsterblichkeit ähnlich: „Der Tod (oder die Anspielung auf ihn) macht die Menschen wertvoll und anrührend. Das Bewegende an ihnen ist ihr gespenstischer Zustand; jede Handlung, die sie ausführen, kann die letzte sein; es gibt kein Gesicht, das nicht bald zerfließen wird wie das Gesicht in einem Traum. Alles hat bei den Sterblichen den Wert des Unwiederbringlichen und des Gefährdeten. Bei den Unsterblichen dagegen ist jede Handlung (und jeder Gedanke) das Echo von anderen, die ihr in der Vergangenheit ohne ersichtlichen Beginn vorangingen, oder zuverlässige Verheißungen anderer, die sie in der Zukunft bis zum Taumel wiederholen werden. Es gibt kein Ding, das nicht gleichsam verloren wäre zwischen unermüdlichen Spiegeln. Nichts kann nur ein einziges Mal geschehen, nichts ist auf kostbare Weise gebrechlich.“ (der Unsterbliche)

Wenn also der Tod eine ständige Wiederholung ist, wie mir Raoul beschrieb und Unsterblichkeit ebenso, wie Borges schilderte, dann sind sie, der Tod und die Unsterblichkeit, in diesem einen Punkt absolut gleich. “Hat denn die Unsterblichkeit nicht etwas vom Tod, und der Tod nicht etwas von der Unsterblichkeit?“ schrieb Stefano D’Arrigo ebenfalls in Horcynus Orca.

Raoul hat diese Attacken, er ist nicht drüber hinweg, wie er mir schrieb. Und ich habe meine, wenn auch ohne Psychose wie bei ihm. Doch uns beiden hilft die Tatsache, dass wir eben nicht wissen, wann dieser Moment kommen wird. Auch wenn ich täglich an den Tod denke, platziere ich ihn von meinem jetzigen Stand weg in einer Zeit weit vor mir in die Zukunft. Wie wäre mein Leben allerdings, wenn ich genau wüsste, dass der Tod sehr nah ist, also unmittelbar nah in der Zukunft?

Als Wolfgang Herrndorf noch lebte und seinen Blog schrieb, hatte ich Hemmungen, darin zu lesen. Eine Befangenheit überfiel mich, eine die mich abhielt, Texte von einem „bewusst Sterbenden“ zu lesen, obwohl mich das brennend interessierte. Nach seinem Ableben legte sich dieser Zustand und ich las seinen Blog „Arbeit und Struktur“.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber panische Angst vor der Steuererklärung. Auch vor anderen Kleinigkeiten, die gemacht werden müssen. Die eigentlich nicht gemacht werden müssen, aber die nicht zu machen einen solchen Schritt aus der Richtung des Lebens heraus bedeutet, dass man gleich aufhören könnte.“ Es ist also die Routine, an der auch ein „Sterbender“ sich im Leben orientiert.

Aber, wenn das Leben ausschließlich aus diesen Routinen bestünde, hätte es noch einen Sinn? Hätten wir dann einen Geist? Denn „Tiefe Unsicherheiten oder feste Zuversicht sind nicht einfach Emotionen wie Zorn oder Freude, sondern Ausdruck von Geist.“ (Warum es die Welt nicht gibt, Markus Gabriel). Der Geist macht sich also kenntlich zwischen diesen extremen Polen. Und für einen, der sein Ableben nicht von sich wegschieben kann wie wir „Gesunden“, sind die Ausschläge zwischen Glückseligkeit und Verzweiflung sehr nah beieinander, der Geist somit scharf und allzeit wach. „ … Dann ist es nur eine Armlänge bis zum Wahnsinn und noch zwei Fingerbreit zum Nichts. Ich muss nur die Hand ausstrecken. Es wundert mich, dass es den anderen nicht so geht.“ (Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur)

Doch, behaupte ich zu sagen, es geht vielen so. „Ohne Bleibe, ohne Leib, ohne ohne, hinter jedem Wort presst ein Geist aus der Flasche.“ (Hendrik Jackson, Panikraum). Und Herrndorf weiter:

„Am Ende, wenn die Welt vergeht
Und kein Gedicht weiß, wer wir waren,
Wenn kein Atom mehr von uns steht
Seit zwölf Milliarden Jahren,
Wenn schweigend still das All zerstiebt
Und mit ihm auch die letzten Fragen,
Wird es die Welt, die’s nicht mehr gibt,
Niemals gegeben haben.“

Schon Heraklit schrieb dazu: „Nun ist der Bogen, dem Namen nach Leben, in der Tat aber Tod.“

Ist die Sinn-Suche also an die Angst vor dem Sterben gekoppelt? Versucht der Mensch Leben zu erklären, weil es den Tod gibt? „Authentizität oder Eigentlichkeit legen wir vor allem an den Tag, wenn wir jeden Moment im Licht unseres bevorstehenden Todes bevorstehen. Lebe als seiest du schon tot.“ (Warum es die Welt nicht gibt, Markus Gabriel)

Meine Angst vor dem Tod ist also nicht zu besiegen; alleine darüber zu reflektieren und in Worte zu fassen ist ein Ausweg, um mit ihm zu leben. „Dir fehlen die Worte und doch kehrst du zu ihnen zurück.“ (Hendrik Jackson, Panikraum)
Vielleicht können wir überhaupt leben, weil wir nicht wissen, ob und was danach kommt. Und die Angst, die gehört einfach dazu.

Sterben, um zu schlafen-
Schlafen: vielleicht zu träumen! Ja, da liegt‘s
Denn was in diesem Todes Schlaf wir träumen,
Wenn wir die ird‘schen Fesseln abgestreift,
Das lässt uns zaudern…
Wer trüge diese Lasten
Und stöhnt‘ und schwitzte unterm Joch des Lebens,
Wenn nicht die Furcht vor etwas nach dem Tod-
Dem unerforschten Land, von dessen Grenzen
Kein Wanderer wiederkehrt- den Willen lähmte
Und uns die alten Übel eher ließe
Ertragen als die Flucht zu unbekannten
Hamlet